Schicksal (Mai 22, 2008)

Juni 9, 2008  
Themen: Argentina

Stephanie riding gracefully

Stephanie riding gracefully

Leise schlichen wir uns Donnerstagmorgen von Juans Ranch. Jack schlief scheinbar noch und ermöglichte es uns auf diese Weise, ungestört unseren Campingplatz zu verlassen.

Voll beladen erreichten wir Stephanies Haus nach einer knappen Dreiviertelstunde. Die stolperte völlig verschlafen gleich barfuß in der eisigen Morgenkälte zum Tor, um uns hineinzulassen und gleich darauf wieder im warmen Bett zu verschwinden.

Nach dem Abschied von Stephanie hofften wir, auf die Litauerin Ugne und ihren spanischen Freund Martin zu treffen. Die Beiden reisen seit einem halben Jahr durch Südamerika und hatten kurzfristig entschieden, nach San Pedro zu kommen. Das nun ihr Ankunftstag ausgerechnet auf unseren Abreisetag traf, war etwas unglücklich. Wir trafen sie letztlich nicht an, denn ihre Reise von Santiago de Chile bis San Pedro dauerte 25 Stunden, was bedeutete, dass sie höchstwahrscheinlich nicht vor dem frühen Nachmittag eintreffen würden.

Wir zogen zur Straße in Richtung Paso Jama, die reichlich wenig befahren erschien. Ein Schild wieß auf die Eröffnung dieses Grenzübergangs in 1991 hin. Viele Tramper scheinen zuvor hier etliche Stunden gewartet zu haben, denn sie hatten mit viel Kunst mittels Steinen ihre Namen ins Schild gekritzelt. Auch wir hinterließen schändlichrweise unsere Spuren an dieser historischen Metalltafel.

Nach drei Stunden Warten hielt endlich ein Auto an. Zögernd fuhr es an die Seite. Skeptische Blicke begegneten mir.

“Wohin fahren Sie?”
“Nach Argentinien.”
“Wir auch. Wir sind auf dem Weg nach Salta.”
Ich wurde gemustert.
“Wir sind zwei Europäer. Ich bin Deutsche und mein Mann ist Litauer.”
“Habt ihr Dokumente?”
“Ja, natürlich. Wenn Sie möchten, zeige ich ihnen meinen Reisepass.”
“Habt ihr euch bei der Aduana (Immigrationsbehörde) hier in Salta für die Reise nach Argentinien registrieren lassen?”
“Nein, wieso?”
“Jeder der Chile auf dem Weg über Paso Jama verläßt, muß sich hier ausstempeln lassen.”
“Wie, das geschieht nicht an der Grenze? Es sind doch knapp 200km bis Argentinien. Wie kann das sein?”
“Hier ist es so. An der Grenze gibt es keinen chilenischen Kontrollposten, ihr müßt euch hier die Ausreisegenehmigung holen.”

Nach einigen weiteren verblüfften Fragen unsererseits ließen wir diese scheinbar einmalige Chance, ein Gefährt direkt bis Argentinien zu bekommen, sausen. Warten würden sie nicht, das hatten sie uns leider schon kundgetan.

starting point in San Pedro for our trip to Salta, Argentina

starting point in San Pedro for our trip to Salta, Argentina

Tief seufzend zogen wir zurück zur Aduana, die auf keinste Weise mit Hinweisschildern darauf aufmerksam macht, dass man sich bei Ausreise dort registrieren muß. Ein Detektiv erklärte uns, dass wir erst eine Mitfahrgelegenheit finden müßten, bevor er uns die Ausreisestempel gab. Reichlich merkwürdig fuer Tramper, dennoch machte es Sinn. Hätten wir die Ausreisestempel bereits und würden am selben Tag keinen Fahrer bis Argentinien finden, könnten uns die argentinischen Grenzbeamten Schwierigkeiten bereiten.

Ein wenig behindert kamen wir uns trotzdem vor. Mit einem Motivationstief setzten wir uns auf die Bank vor dem Aduana-Gebäude und ich begann an meinen Schmuckkunstwerken zu basteln. Unser kleiner Hundefreund, den wir mit Brot an der Straßenkreuzung nach Paso Jama angefüttert hatten, gesellte sich mit einigem Abstand zu uns. Er brachte damit etwas Licht ins Dunkel. Ach, wie gern hätten wir den adoptiert und aufgepäppelt!

Die meiste Zeit passierte nichts. Ab und zu baten wir um Mitnahme, doch der einzige Herr, der wirklich mit seinem LKW nach Argentinien fuhr, lehnte unsere Mitnahme ab.

Während ständig Reisebusse mit etlichen Passagieren die Kontrolle der Aduana über sich ergehen lassen mußten, erspähten wir einen etwas zu wohlgenährten Herrn. Wir lauschten seinem Reiseziel, dass er im Büro der Aduana angeben mußte. Ich sprach diesen Herrn kurz darauf an, ob er uns nicht nach Salta mitnehmen könnte. Er sagte sofort zu. “Er nimmt uns mit!”, rief ich Augustas zu, während ich auf ihn zurannte. Augustas verschwand sofort im Büro der Aduana, um unsere Reisepässe abstempeln zu lassen. Wir schnappten unsere Rucksäcke und liefen auf das Auto des Argentiniers zu, der uns mitnehmen wollte. Sein Auto war hinter einem Reisebus geparkt und als wir nahe genug herankamen, sahen wir, wie der Herr gerade in die nächste Seitenstraße einbog. Er machte einige unverständliche Handbewegungen, die wir so interpretierten, dass er uns lieber in einer Seitenstraße auflesen wollte. Wir hetzten mit Sack und Pack hinterher, doch der Herr schien nicht im Geringsten anhalten zu wollen. Was war nur in ihn gefahren? Was bedeuteten seine kreisenden Handbewegungen? Wollte er nur noch schnell einen Einkauf in San Pedro tätigen? Warum hatte er nicht gewartet und uns das gesagt? Der Herr war verschwunden. Etwas unschlüssig standen wir herum und ich schlug vor, zur Straßenkreuzung nach Paso Jama zu gehen und dort auf ihn zu warten. Ich malte mir aus, dass der Argentinier eventuell noch etwas besorgen wollte und uns später an der Kreuzung auflesen würde. Dazu paßten auf jeden Fall seine wilden Armbewegungen. Augustas sah das anders. “Besser wir warten hier, sonst findet er uns nicht oder denkt, wir haben bereits eine andere Mitfahrgelegenheit bekommen,” So richtig zufrieden ließ mich diese Entscheidung nicht. Irgendwie fühlte ich den Drang, zur Kreuzung zu laufen, doch diesmal vergaß ich, mein Gefühl Augustas verbal kundzutun. Wir warteten und ließen die Kreuzung nicht aus den Augen. Nach ungefähr 20 Minuten entdeckte Augustas schließlich einen kleinen roten Privatwagen, der dem des Argentiniers sehr glich.

“Schau! Er fährt recht langsam, vielleicht wartet er an der Kreuzung auf uns!”, rief ich Augustas voller Optimismus zu.
“Wir werden gleich sehen, ob er auf uns wartet. Sobald er am Horizont erscheint, werden wir es mit Sicherheit wissen.”
“Wäre es nicht besser, wenn ich zu dem Hügel dort renne und nachsehe?”

Augustas fand das völlig unnütz, da ich aber nicht einfach dumm herumstehen und abwarten wollte, rannte ich los. Nahe dem Hügel rief mir Augustas zu, “Katja! Dort ist er!” Ich erspähte einen kleinen roten Punkt nahe dem Horizont und wartete gespannt, ob er geradeaus fahren würde. Das tat er schließlich und in mir stieg Ärger auf. Warum hatte ich nur auf Augustas gehört? Ich war mir sicher, dass wenn wir an der Kreuzung gewesen wären, er uns mitgenommen hätte. Stinksauer stieß ich meinen Fuß in den Sand und wandte mich von Augustas ab. Warum gab ich eigentlich so oft nach? Warum habe ich nicht darauf bestanden, zur Kreuzung zu marschieren? Mir stieg der Ärger zu Kopf, was sich darin äußerte, dass ich kein Wort mit Augustas reden wollte. Trotzdem rutschten mir Worte des Ärgers heraus. Die halfen aber, die negative Energie herauszulassen und mich wieder sanfter zu stimmen.

Zurück auf der Bank vertiefte ich mich in meine künstlerischen Tätigkeiten. Unlust machte sich auf unserer beider Gemüter breit. Gut, dass es sowieso niemanden zur Mitnahme zu befragen gab.

Und so verstrich die Zeit, bis gegen Sechs Uhr die Sonne unterging. Mittlerweile wieder im Einklang mit uns selbst, hofften wir inständig auf eine gute Seele, die uns noch heute nach Argentinien bringt.

Vorerst stand aber die Kälte vor der Tür, denn die Sonne war wie immer in wenigen Minuten untergegangen und hinterließ die Wüstengegend mit zunehmend abfallenden Temperaturen. Wir mußten unsere wärmenden Hemden und langen Unterhosen ankleiden, damit wir nicht in Kürze als Eiszapfen enden. Die Toiletten im Aduana-Gebäude waren verschlossen und so bat ich die Aduana-Mitarbeiter um einen anderen Raum, wo ich mich ungesehen ent- und ankleiden konnte.

“Leider können wir ihnen da nicht weiterhelfen.”
“Sie haben doch sicherlich eine andere Toilette, wo ich mich schnell einmal umziehen kann.”
“Nein, nicht wirklich.”
“Es muß doch hier
irgendwo einen Raum geben, wo ich meine Sachen wechseln kann. Ich kann mich ja schlecht auf der Straße umziehen. Wie sieht es denn mit der oberen Etage aus? Gibt es dort etwa keine Möglichkeit für diese Notwendigkeit?”
“Oben liegen unsere privaten Zimmer.”
“Dort gibt es doch sicher ein Badezimmer, in das sie mich hineinlassen könnten. Sie können gerne vor der Tür auf mich warten, wenn sie mir nicht trauen.”

“Gebt mir bitte den Schlüssel”. meinte der Aduana-Mitarbeiter, mit dem ich die ganze Zeit sprach, zu seinen Kollegen gewandt. Ich stellte mich ein wenig abseits und hörte, wie auf seine Bitte hin, eine Dame meinte, “Nein, das können wir nicht tun, ich gebe dir den Schlüssel nicht. Nein, auf keinen Fall!” Bedient wandte er sich mir wieder zu und meinte, “Versuchen Sie es doch bei der SAG (Servicio Agrícola y Ganadero, Service für Landwirtschaft und Viehhaltung) einmal.”

“Die werden mir das Gleiche sagen wie Sie,”
“Versuchen sie es doch zumindest einmal.”
“Als ob Sie nicht wüßten, dass auch die mich fortschicken werden.”
“Wir können ihnen leider nicht helfen. Probieren sie es bei der SAG einmal…”

Wut stieg in mir auf. Einerseits, da mir die Aduana-Mitarbeiter ohne wahren Grund nicht helfen wollten, zum anderen, weil ich genau wußte, dass sich die ganze Szene wiederholen würde und zwar ohne Erfolg. Ich ging trotzdem hin.

“Könnte ich bitte ihre Toilette nutzen, um meine Sachen zu wechseln?”
“Nein, unmöglich. Außerdem haben wir keine Toilette.”
“Sie haben keine Toilette? Das kann ich mir schwer vorstellen. Sicher müssen sie diesen Ort während ihrer Arbeit aufsuchen.”
“Wir wohnen nicht weit von hier.”
“Ach! Und wenn sie auf Toilette müssen gehen sie jedes Mal nach Hause? Das glaube ich ihnen nicht. Könnten Sie mich denn nicht nur für eine kurze Zeit in einen Raum einlassen, wo ich meine Kleidung wechseln kann?”
“Nein!”

Das Gespräch ging noch etwas weiter, bis ich mich mit den Worten, “Welch Schande für die Menschlichkeit!” bei ihnen verabschiedete. Ich war wütend bis obenhin. Ich hatte die Nase gestrichen voll von so viel Dummheit. Was war denn bitte das Problem, eine Dame ihre Sachen wechseln zu lassen? Wo blieb das natürliche Verständnis für eine alltägliche, besonders an diesem Ort, um diese Zeit notwendige Aktion? Schalteten diese Herren denn ihr Gehirn vollständig ab? War es dieser Scheiß Kapitalismus, der die Menschen so materialistisch machte, dass Menschlichkeit und Verständnis völlig auf der Strecke blieben? In Peru wäre es nie so weit gekommen! Die hätten mir auf jeden Fall geholfen, da war ich mir sicher. Ich kochte innerlich und da mir in solch einem Zustand klug gewählte Worte nicht über die Lippen kommen, protestierte ich mit einer Umziehaktion auf der Straße. Sie wollten es doch nicht anders, diese Idioten! Wütend entschnürte ich meine Schuhe, zog meine Hosen herunter, die Strumpfhosen und warmen Socken über meine nackten Beine, die Hose und schließlich die Schuhe wieder an. ‘So! Das habt ihr nun davon!’, ging es mir durch den Kopf. “Beruhige dich”, meinte daraufhin Augustas. “Du mußt hier keine Szene daraus machen, dass du deine Kleidung auf der Straße wechseln mußt. Das ist schließlich nicht das erste Mal.” Sicher war es das nicht und im Grunde genommen war das Wechseln der Hose auch weniger das Problem. “Ist es denn wirklich so problematisch, deine warmen Hemden hier unterzuziehen?” Ich dachte ich höre nicht richtig, als mir Augustas diese Frage an den Kopf warf. “Das verstehst Du etwa nicht?” Mir fehlten die Worte. Wie konnte Augustas nur nicht nachvollziehen, dass das Entblößen meines Oberkörpers auf der Straße kein Problem darstellte? Und das bei einer mindestens zwölfköpfigen Männerschar, von der wir stets umgeben waren. Schließlich waren wir hier nicht am FKK! “Und ob es ein Problem ist!”, rief ich entrüstet, denn Seitenhiebe von ihm auf die noch immer nicht verrauchten Wutschübe brauchte ich nun weiß Gott nicht. Nicht weit von uns befand sich ein noch im Bau befindliches Haus, was ich alsbald ansteuerte, um meinen Oberkörper entblößen und meine warmen Sachen endlich unterziehen zu können. Das Haus hatte zwar nur zwei Wände, aber zumindest konnte ich auf diese Weise den Blick auf meine Brust verbergen. Was mich letztendlich meinen Ärger vergessen ließ, war unser treuer Hundefreund, der, einmal mit Brötchen angefüttert, nicht mehr von unserer Seite wich. Selbst zum Umziehen folgte er mir und kuschelte sich in der Hoffnung, ich würde ihm in der Nacht Gesellschaft leisten, vor mir zusammen. Eine tiefergreifende Szene.

Ich kam gerade vom Umziehen zurück, als plötzlich ein Soldat auf uns zukam, der den ganzen Tag die Registrierung der Fahrzeuge zur Ein- und Ausreise vornahm.

“Ist irgendetwas bei euch nicht in Ordnung? Ist euer Bus nicht gekommen?”
“Nein”, antwortete Augustas. “Wir sind per Anhalter nach Argentinien unterwegs, doch der Herr, der zusagte uns mitzunehmen, hat sich klammheimlich aus dem Staub gemacht,”
“Ach so ist das. Wartet ein wenig, ich halte nur kurz Rücksprache mit dem Herrn dort drüben.”

Er verschwand in Richtung Aduana-Büro, wo sich laut Augustas ein Herr aufhielt, der scheinbar nach Argentinien fuhr. Wir beobachteten den Fahrer und den Soldaten und lauschten ein wenig deren Unterhaltung. Hoffnung machte sich in uns breit. Kurz darauf bat uns der Soldat um etwas Geduld, bis der Herr seinen Ausreiseprozess durchlaufen hatte. Ungeduldig warteten wir auf sein Auftauchen.

Als er schließlich zur Registrierung seines Gefährts überging, tauchte ein anderes junges Paar auf. Waren die etwa auch per Anhalter unterwegs und würden uns nun unsere Mitfahrgelegenheit vor der Nase wegschnappen? Mein Herz pochte bis zum Hals und ich stellte mich näher an den Fahrer heran, um in diesem Fall schnell reagieren zu können. Augustas kam hinterher und das Warten wurde unerträglich für uns. Besonders dann, als das Paar noch näher an den Fahrer heranrückte. ‘So aber nicht!’, schoß es mir durch den Kopf. Das Paar begann uns ein paar Fragen zu stellen und sich selbst und ihre Situation zu erklären. Es waren Franzosen, die mit einer Kiste reisten, die der Busfahrer ablehnte zu transportieren. Nun suchten sie einen anderen Weg. Für uns bedeutete ihre Situation Gefahr des Verlustes unserer potentiellen Mitfahrgelegenheit. Obwohl wir ihnen gerne geholfen hätten, nach 8 Stunden Warten wollten wir einfach nur noch weg. Obwohl der Fahrer noch immer bei der Registrierstelle eingespannt war, konnte ich nicht mehr an mir halten und sprach ihn an. Nach ein paar Worten bat er uns um weitere 5 Minuten Geduld, die wir nun etwas gelassener annahmen. Schließlich und letztendlich entschied er sich sehr wohl für uns, da ihn bereits der Soldat auf uns “Litauer” angesprochen hatte. Glücklich über die Hilfe des Soldaten, fanden wir uns gegen 19 Uhr endlich in einem Pick-Up wieder und brausten gen Argentinien.

Lisandro war heilfroh uns aufgegabelt zu haben, denn nachts erschien die sonst hochinteressante Strecke zum Paso Jama reichlich langweilig. Bei der um die Zeit aufkommende Müdigkeit waren wir ihm der willkommene Kaffee, den er zum Durchhalten auf dieser Strecke benötigte. Lisandro war auf dem Weg nach San Fernando del Valle de Catamarca. Dort befindet sich ein Kupferbergwerk, dass er gewöhnlich einmal im Monat aufsucht. Als Biochemie-Ingenieur und nun Kommerzieller Teamleiter für GE Water and Process Technologies der GE BETZ Chile Ltda. (www.gewater.com) ist er in Projekte eingespannt, die in verschiedenen Bergwerken in Chile und Argentinien laufen.

Eigentlich hatten wir Glück, dass wir an diesem Abend auf Lisandro trafen. Normalerweise, so meinte er, schläft er für eine Nacht in San Pedro de Atacama, bevor er zum Streckenmarathon nach San Fernando aufbricht. Doch irgend etwas sagte ihm an diesem Tag, dass er bereits in der Nacht losfahren sollte. War es die Begegnung mit uns, der er intuitiv gefolgt war? 

Der Weg war lang, aber keineswegs langweilig. Lisandro hatte viel zu erzählen und sein Wissen kombiniert
mit unserem ergab eine Gesprächsatmosphäre, wie man es sich beim Trampen besonders nachts wünscht. Es gab keinen Moment auf der zehnstündigen Reise, bei dem uns das Reden zuviel wurde. Eins der Themen, die Augustas besonders bewegten, war die Funktionsweise der Bergwerke. Während ich solche Orte bereits in meiner Kindheit ausgiebig kennengelernt habe, war es für Augustas als Litauer, wo es keine Berge gab, neu und interessant, das Leben und die Arbeit in einem Bergwerk zu inspizieren. Als Lisandro ernsthaft meinte, dass er uns problemlos in das größte Kupferbergwerk der Welt, Chuquicamata, für einen Besuch hineinbringen konnte, fingen Augustas Augen an zu leuchten. Das würde die Erfüllung eines von Augustas großen Träumen bedeuten. Nur müßten wir dafür eben zurück nach Calama, Chile, reisen. Augustas schielte Zustimmung einheischend nach hinten zu mir auf die Rückbank. Mit einem Lächeln bestätigte ich meine Unterstützung zur Erfüllung seines Traumes, stellte aber sogleich die Bedingung, über Mendoza nach Chile zurückzukehren und dann entlang der Panamericana zurück in den Norden Chiles nach Calama zu reisen. Da es auch ein Bergwerk in der Nähe von Copiapo gibt, wo wir einen litauischen Nachfahren besuchen wollen, würde sich der Besuch dort eher anbieten. “Allerdings”, meinte Lisandro, “wäre es dort nicht so einfach wie in Chuquicamata, eine Führung zu organisieren.” Wir werden sehen.

Kurz bevor wir zur Grenze, dem Paso Jama, kamen, bat ich bei nächster Gelegenheit anzuhalten, denn meine Blase war am Platzen. Augustas war heilfroh, dass ich mich gemeldet hatte, denn auch er war an seine Grenzen der Zurückhaltung gestoßen. Da wir gerade einmal zwei Stunden unterwegs waren, meinte Lisandro, “Ihr seid wie meine Kinder!” Wir lächelten und erlösten uns alsbald unserer Blasenüberladung im Minusgradkaltem Nirgendwo. Zurück beim Einsteigen fügte Lisandro grinsend hinzu, “Ganz schön frisch da draußen, nicht wahr?” Mein Einsatz folgte, “Besonders für die Frauen!” Die Reaktion endete in schallendem Gelächter, denn jedem Autoinsassen war sofort klar, was ich meinte.

Wir überquerten den Paso Jama und gingen ins Immigrationsbüro hinein. Im ersten Raum sahen wir zwei Herrn rechts von uns an Schreibtischen sitzen und vor sich hinqualmen. Das kurz darauf entdeckte Schild an der Wand “Rauchen verboten”, weihte uns in die argentinische Mentalität ein.

Im nächsten Raum sollten wir unsere Einreisestempel bekommen. Kaum eingetreten, sahen wir 5-6 Beamte, die sich alle vor dem im hintersten Zipfel des Raumes stehenden Fernseher gesellten. Fußball war angesagt und nahm die Beamten emotional und physisch voll in Anspruch. Wir mußten laut auf uns aufmerksam machen, damit sie sich zumindest zu uns umdrehten. Selbst als sie unserer gewahr wurden, schienen sie zu zögern, ob sie ihrer Arbeit nachgehen oder lieber weiter dem Fußballspiel fröhnen sollten. Zwei von ihnen nahmen sich schließlich mit genervtem Gesichtsausdruck die Zeit, unsere Einreisestempel zu erteilen. Lisandro erledigte seine Papiere als erster, denn er mußte auch noch sein Gefährt registrieren lassen. Mein Reisepass wurde elektronisch eingelesen und innerhalb von einer Minute hatte ich den Stempel im Pass. “Willkommen in Argentinien”, fügte der Beamte hinzu. Augustas kam als nächster und wie so häufig, war auch hier ein litauischer Reisepass eine Ausnahme. Beim Einlesen befand das elektronische Lesegerät, dass Augustas ein Visum benötige.

“Sie brauchen ein Visum!”, meinte einer der zwei Beamten.
“Nein, ich brauche keins”, erklärte Augustas.
“Das System sagt mir, dass du ein Visa benötigst.”
“Das stimmt nicht. Ich brauche kein Visa. Ihr System ist nicht auf dem neuesten Stand. Prüfen Sie das bitte noch einmal.”

Der Beamte werkelte weiter mit Augustas Reisepass herum, doch jedes Mal, wenn er den in den Computer einlas, zeigte ihm das System “Visa notwendig” an. Er besprach sich mit seinem Kollegen und beide wiederholten mehrmals, dass Augustas ein Visa für die Einreise nach Argentinien benötige. Augustas beobachtete das Ganze und unterbrach,

“Litauer brauchen kein Visum, das weiss ich sicher.”
“Die Dinge ändern sich schnell. Es kann sein, dass gestern noch kein Visa notwendig war, aber heute ist es so. Wir vertrauen auf das System. Da es uns angibt, dass du ein Visum brauchst, kannst du eben nur mit Visum einreisen.”
“Haben Sie denn keine Listen, wo die Visabestimmungen aller Länder aufgelistet sind?”, hängte ich mich dazwischen.
“Das System wird uns schon sagen, was Sache ist. Wir müssen nur ein wenig warten. Wir haben gerade keine Verbindung zum Internet. Das kommt häufiger vor.”
“Besonders in dem Fall sollten Sie doch zumindest über Listen in ausgedruckter Form verfügen, wo die Visabestimmungen aller Welt aufgeführt sind.”

Die Beamten holten ein paar Listen heran, die bereits etwas älter schienen. Sie blätterten hindurch.

“Litauen ist nicht in der Liste. Wir können da nichts tun. Nach unserem Stand brauchst du ein Visa. Wenn sich die Verbindung heute nicht erneut herstellt, müssen wir bis morgen früh warten. Punkt.”

Bis morgen früh? So lange wollten wir auf keinen Fall warten. Nicht nur, weil wir mit Lisandro eine Fahrt direkt bis nach Salta gefunden hatten, sondern aufgrund der Tatsache, dass wir uns in Paso Jama auf 4.200m Höhe über dem Meeresspiegel befanden und es draußen eisig kalt war. Augustas machte also einen Vorschlag.

“Hören Sie, ich weiß 100%ig, dass ich kein Visa benötige. Wenn die Verbindung zusammengestürzt ist, schreiben Sie sich meine Daten doch auf ein Papier und schauen sie morgen früh im Internet nach.”
“Callate!”, entgegnete der Beamte wütend. (Callate bedeutet übersetzt “Halt den Mund!”, doch ist mindestens drei Mal so unhöflich, als im Deutschen.)

Jetzt sah ich rot. Was hatte der Beamte gesagt? Callate? Oh…!

“Benehmen Sie sich gefälligst und reden mit uns in einem ordentlichen Ton! Es kann nicht sein, dass sie uns derart respektlos begegnen!”, platzte es aus mir heraus. Das Wortgefecht ging nun zwischen dem Beamten und mir weiter. Allerdings erkannte er bald, dass er einen Fehler gemacht hat mit dieser Aussage. Er wurde kleinlaut und versuchte weiterhin, Augustas Reisepass in den Computer einzulesen. Wir wurden zum Warten in den ersten Raum gebeten. Kurze Zeit später tauchte ein Herr in grüner Uniform auf, gefolgt von den zwei Beamten. Sie versammelten sich alle drei um einem im ersten Raum stehenden Computer und kontrollierten die Aussage des Systems. Der grün Uniformierte bestätigte, dass Augustas ein Visa benötigte. Gleichzeitig prüften die Beamten, ob sie wieder Verbindung mit dem Internet hatten. Ein dicker Beamte im Jogginganzug, der bereits bei unserer Ankunft rauchend an einem Computer im ersten Raum saß, rief Google.com auf. Nach einigen Minuten fanden sie schließlich eine Liste der Visabestimmungen. Die bestätigte, dass Litauer kein Visum für die Einreise nach Argentinien benötigen. Um es schwarz auf weiß zu haben, ließ sich der uns betreuende Beamte die Liste ausdrucken. Er rief außerdem beim Regionalchef von Jujuy an, um das OK für die Einreise von Augustas zu erhalten. Nachdem der Jujuy-Chef mit einem weiteren Beamten in Buenos Aires Rücksprache gehalten hatte, erhielt unser Betreuer offiziell die Erlaubnis, Augustas einreisen zu lassen. Nun mußte nur noch das System überlistet werden, was nach weiteren zehn Minuten schließlich klappte. Der Beamte schien glücklich über die Lösung dieses Falls und drückte mit höchster Befriedigung den Stempel in Augustas Reisepass. Beim Herausgehen entschuldigte er sich dann noch einige Male, dass er so ausgeflippt war. Er meinte, “Wißt ihr, es passiert des öfteren, dass Leute bei uns um Einreise bitten, die offiziell ein Visum brauchen. Dann legen sie Geld auf dem Tisch und denken, sie kommen damit davon. Das war der Grund für mein Verhalten.” Er nahm gar meine Hände und bat mich inständig, ihm zu verzeihen. “Schon vergessen”, meinte ich daraufhin, was den Beamten zu einem überglücklichen Lächeln verh
alf.

Bevor wir den Ort verließen, bat ich um eine Toilette. Unser Betreuer bat mich kurz um Geduld und verschwand im Aufenthaltsraum der Immigrationsbeamten. Seine Kollegen fingen an zu lachen. Warum nur? War es so außergewöhnlich, mich auf Toilette gehen zu lassen? Kurz darauf kam er zurück und bat mich ihm zu folgen. An der Toilette angekommen, bat er mich gemeinsam mit ihm einzutreten. Ich hatte bereits ein Fragezeichen im Gesicht, als er plötzlich die Tür schloß. “Schau!”, meinte er, “wenn du die Türe schließt, dann hebe sie bitte an der Seite der Verankerung ein bischen an und schiebe sie nach vorne.” Die Tür war perfekt geschlossen. Ich grinste. Ich dankte dem Beamten, woraufhin er verschwand und ich das Nötige erledigen konnte.

Während des langatmigen Einreiseprozesses wurde Lisandro gebeten, einen Herrn bis hinunter zum nächsten Dorf mitzunehmen. Der überernährte Mann, der im ersten Raum schwächlich auf der Bank saß, litt an Höhenkrankheit. In diesem Fall muß sofort gehandelt werden und da wir noch einen Platz frei hatten, kam er mit uns mit. Wir waren gerade im Herausgehen, da meinte Augustas, “Ist das nicht der Italiener, der uns in San Pedro hat sitzen lassen?” Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Ich erkannte ihn und konnte es nicht glauben. Erst ist er klammheimlich ohne uns abgezogen und jetzt war er es, der auf eine Mitfahrgelegenheit warten mußte. Was für ein Schicksalsschlag! Eigentlich war der Herr Argentinier, aber irgend etwas hatte mich in San Pedro dazu verleitet, ihn als Italiener zu bezeichnen.

Wir arrangierten uns fein im Auto und fuhren die 130km bis zu einem Motel. Der Herr stieg aus und wir versuchten das Auto aufzutanken. An der Tankstelle, die laut Hinweis 24 Stunden am Tag in Betrieb ist, hing die Nachricht, dass das Benzin ausgegangen war. Lisandro hatte vorgesorgt. Er holte den Benzinkanister von der Ladefläche und füllte per Hand die notwendige Energie in sein Wägelchen. In der Zeit kam der Italiener zurück und erklärte, dass das Motel geschlossen wäre. Er kam also weitere 30km mit, wo wir ihn in einem etwas grÖßerem Ort herausließen. Kaum war er ausgestiegen, erklärten wir Lisandro, dass dies der Herr war, der uns versprochen hatte, von San Pedro de Atacama bis Salta mitzunehmen. Lisandro lachte. “Das Schicksal scheint ihm heute eine Lektion erteilt zu haben”, fügte Augustas hinzu. Wir lachten und freuten uns darüber, dass der Italiener uns im Stich gelassen hatte. Es zeigt sich doch immer wieder, dass wir nur auf den richtigen Fahrer warten mußten. Unsere vorher gehegten Gedanken, den Tag mit Warten vergeudet zu haben, begruben wir spätestens jetzt.

Ohne Argentinische Pesos in der Tasche, hieß es möglichst noch auf dem Weg nach Salta einen Geldautomaten ausfindig zu machen. In Tres Marias, ein kleines verschlafenes Örtchen mit herrlich alten Gebäuden im italienisch-französischem Stil, suchten wir unseren Weg bis zum Zentralpark, wo es einen Geldautomaten geben sollte. Noch im Schwärmen über diesen Ort, hielten wir direkt vor dem Eingang zum Geldautomaten. Was wir dort sahen, ließ uns allerdings von unserem Vorhaben ablassen. Im Inneren der Geldautomatenstation lagen drei Reisende krumm wie Würmer in ihre Schlafsäcke eingewickelt und waren tief und fest in ihren Träumen versunken. Bei der Kälte und dem eisigen Nachtwind war ihnen das nicht zu verübeln. Wir hielten uns die Bäuche vor Lachen über diesen Anblick und brausten davon.

In San Salvador de Jujuy hielten wir an einer Tankstelle. Als wir eintraten, fühlten wir uns wie zu Hause in Europa. Eine Tankstelle mit einladenden Toiletten, Regalen voller Leckereien, heißen Getränken, Speisen, zahlreichen Tischen und Stühlen, angenehmer Musik und einem Wohlfühlambiente, wir wir es lange nicht mehr erlebt haben. Wir seufzten seelig. Da wir noch immer keine Argentinischen Pesos besaßen, lud uns Lisandro zu einem Tee ein. Er hätte uns gerne zu einem Sandwich eingeladen. Das Problem war, dass hier jegliche Sandwiches mit Fleisch oder Schinken belegt waren. Obendrauf gab es noch ein Stück Käse. Wir begnügten uns also mit unserem Tee, der unsere über Hand nehmende Müdigkeit um halb Drei morgens wegbließ. Hinzu gab es noch einem Müsliriegel.

Gestärkt und wach setzten wir den Weg nach Salta fort. Leider gestaltete sich das am Anfang nicht so einfach, da es zwei Wege nach Salta gab. Einer von ihnen war klar ausgeschildert, doch Lisandro bestand darauf, dass dies nicht der richtige war. Nachdem wir drei mal im Kreis gefahren waren, sozusagen rauf auf die Autobahn, runter von der Autobahn, und wieder rauf, fand er endlich die richtige Abzweigung. Für uns schien es anfangs der falsche Weg, da Salta in keinster Weise als Reiseziel angekündigt wurde, aber Lisandro fuhr den Weg schließlich nicht zum ersten Mal. Nach einer Weile tauchte Salta auf den Schildern auf und wir sahen unserer Ankunft mit Gelassenheit entgegen.

Um 4:30 Uhr erreichten wir endlich Salta. Lisandro brachte uns zu einer Tankstelle, an der Augustas Geld abheben konnte und fragte uns schließlich, wo wir herausgelassen werden wollten. “Im Zentrum”, platzte es aus mir heraus, ohne zu realisieren, dass es noch immer mitten in der Nacht war und die Geschäfte mit Sicherheit noch lange auf ihre Öffnung warten ließen. “Im Busbahnhof”, reagierte Augustas schnell. Der lag keine 20 Meter von der Tankstelle entfernt.

look over Salta town

look over Salta town

Der Abschied war herzlich. Lisandro meinte noch, “Ruft mich an, sobald ihr zurück in Chile seid, damit ich euch einen Besuch in einem unserer Bergwerke organisieren kann.” Nachdem er uns seine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte, trennten sich unsere Wege und wir liefen zur Oase namens Busbahnhof.

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