Eine faszinierende Persönlichkeit (November 12 – 15)

März 11, 2007  
Themen: Mexiko

Wir fuhren mit dem Bus bis zur Peaje, die ein ganzes Stück weit draußen von Mexiko Stadt lag. Dort bot sich eine gute Gelegenheit zu trampen. Nach einer Weile Warten überraschte uns der Regen. Wir verharrten an Ort und Stelle, als sich der Regen aber in Güsse verwandelte, zog ich es vor, mich unter das winzige Stück Überdachung, dass die Fußgängerbrücke bot, zu stellen. Kaum war ich auf dem Weg dorthin und fast angekommen, pfiff mich Augustas zurück. Ein Autofahrer war bereit uns mitzunehmen.

In die Rücksitze eines modernen, geräumigen Jeeps gebettet, lernten wir dieses Mal eine junge Familie aus Mexiko Stadt kennen. Der Fahrer und somit Ehemann hatte eine eigene Firma, die ihn rund um die Uhr einspannte. Seine Arbeit ermöglichte es seiner Frau länger mit dem erst acht Monate altem Baby zu Hause zu bleiben. Doch, und gerade wegen seiner Familie, bestand er darauf am Wochenende dem Mief von Mexiko Stadt zu entfliehen. Sie hatten ein kleines Häuschen in Jiutepec, wo sie jedes Wochenende verbrachten und befanden sich gerade auf dem Weg dorthin. Deren kleine Tochter war ein genauso süsser Fratz wie Mateo. Ausgeglichen, neugierig, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Ein richtiger kleiner Schelm. Die Familie war seit 20 Jahren Vegetarier und ließ nur natürliche Produkte an und in ihre Körper fließen. Zum Erwerb dieser Produkte nutzten sie den wöchentlichen Ausflug nach Jiutepec, denn dort fand jedes Wochenende ein Bauernmarkt statt, auf dem sie ihre Wochenration Obst und Gemüse einkauften. Wir waren sichtlich erfreut, endlich mal keine Fleischesser zu treffen. Noch dazu solche, die uns glattweg zu sich einluden. Sie wollten uns zum Essen in Jiutepec einladen und uns gleichzeitig ihren Lieblingsort ein wenig näher bringen. Wir waren sofort begeistert und riefen über das Mobiltelefon der Beiden Sylvia, unsere Servas Gastgeberin, in Cuernavaca an. Wir hatten uns für die Mittagsstunden angekündigt und würden nun auch definitiv zu dieser Zeit eintreffen, wenn nicht, ja hätten wir die Einladung nicht erhalten. Um uns diese Chance nicht nehmen zu lassen, versuchten wir mit ihr einen späteren Treffpunkt zu vereinbaren. Leider schien das ungünstig, denn am Telefon hörte ich heraus, dass wir besser direkt nach Cuernavaca düsen sollten. Wie schade. Es ist immer wieder das Gleiche, wenn wir bereits verabredet sind. Wir erhalten Einladungen und können sie nicht wahrnehmen. Obwohl, können schon, doch wollen wir das nicht auf Kosten anderer machen, die bereits auf uns warten. Seufz. Die Familie war also so lieb, statt uns an der Weggabelung Jiutepec-Cuernavaca einfach herauszusetzen, direkt bis zum Busbahnhof in Cuernavaca zu bringen.

Wir machten es uns am Busbahnhof von Cuernavaca auf unseren Rucksäcken gemütlich. Gerade als wir anfingen, unser vorgekochtes Essen zu verspeisen, tauchte Sylvia auf. “Hallöle”, trällerte sie uns entgegen und lächelte bis über beide Ohren. Ihre humoristische Art zu reden zog uns sofort in ihren Bann. Wir liefen ein Stück, um zu ihrem alten, klapprigen, mit Antiquitäten und Zeitungen vollgestopften Wagen zu gelangen. Auf dem Weg zu ihrem Haus fuhren wir noch kurz bei Sylvias Mutter vorbei, da wir nach Abladen unserer Rucksäcke einen kleinen Ausflug ins Umland machen wollten. Die Mutter war über 70 Jahre alt, sah aber aus wie maximal 50. Sie war schlank, behende, mit dem gleichen Lächeln wie ihre Tochter und erklärte sich sofort freudig einverstanden, mit uns einen Ausflug zu machen. Wir wünschten uns in diesem Moment, im gleichen Alter selbst so fit zu sein.

Sylvias Wohnung befand sich im vierten Stock eines Wohnblocks. Die Wohnung war winzig. Sylvia lebte zusammen mit ihrem Sohn Yoshi (sprich: Joschi), der das Ergebnis ihrer zweijährigen Ehe mit einem Chilener war, mit dem sie gemeinsam in Japan gelebt hatte. Sie trennten sich kurz nach der Geburt von Yoshi in Japan und Sylvia kehrte mit ihrem bereits von Geburt an international geprägtem Bündel nach Hause zurück. Die Wohnung hatte zwei kleine Zimmer, eine Stube mit Essecke, eine winzige Küche, einen genauso großen Balkon und ein Bad, dass nur kaltes Wasser hatte. Schon beim Eintreten konnte man sehen, wie sehr Sylvia in Japan verliebt war. Überall standen japanische Souvenirs herum, die sie bei ihrer Rückkehr mitgebracht hatte. An den Wänden fanden sich einige Collagen, die viele Bilder und Orte in Japan zeigten. Sylvia hatte die Collagen selbst gemacht. Zu der visuellen Bestätigung von Sylvias Liebe zu Japan, erzählte sie auch sehr oft von dieser Zeit. Mich faszinierte das, denn ich träumte von einer Reise nach Japan und anderen asiatischen Ländern. Sylvia hatte obendrein Grundkenntnisse der japanischen Sprache.

Ihr zwölfjähriger Sohn Yoshi war sehr selbstständig. Er ging noch zur Schule, kümmerte sich um einige Haushaltsangelegenheiten und teilte sich mit Sylvia ins Kochen rein. Er sprach nicht viel, verschwand nur liebend gern in seinem Zimmer oder schweigend vor dem Fernseher. Yoshi hatte jahrelang einen japanischen Kampfsport trainiert, verlor aber kürzlich die Lust daran. Als wären wir mit der herzlichen Aufnahme in Sylvias Haus nicht bereits reichlich beschenkt worden, räumte Yoshi auch noch sein Zimmer für uns, damit wir nicht auf dem Boden schlafen müssten. Das taten wir letztendlich doch, denn sein Bett war viel zu klein für uns Beide. Doch nun taten wir dies in einem eigenem Raum.

Sylvia war Anwältin für Kinder und Frauen, die von ihren Familienangehörigen mißhandelt und vergewaltigt werden bzw. wurden. Sie betreute seit Jahren verschiedene Fälle. Alles was sie bei Aufgreifen dieser Arbeit wollte, war eine Veränderung zu bewirken und den Betroffenen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Doch das gestaltete sich in den meisten Fällen schwierig, oft gar unmöglich. Nach vielen Jahren in dem Bereich hatte sie den Entschluß gefaßt, diesen Abschnitt ihres Lebens hinter sich zu lassen. Sylvia interessierte sich für gesunde Ernährung und war gerade dabei ihre Ausbildung als Ernährungsberaterin, die sie neben ihrer Arbeit absolviert hatte, abzuschließen. Nebenbei nahm sie auch an Englischkursen teil und studierte die deutsche Sprache. Sylvia war wirklich überall und zur selben Zeit, ständig herumwuselnd und neugierig nach interessanten Tätigkeiten suchend, die ihr Leben bereichern würden. Ein wahres Energiebündel, gepaart mit unvergleichlichem Humor und niemals versiegenden Redekünsten.

Die Zeit war gekommen, da holten wir Sylvias lustige Mutter ab und fuhren nach Tepoztlan. Dort angekommen entschieden wir uns aber ein Stück weiter, zu einem kleineren Dorf zu fahren, denn Tepoztlan war ein touristischer Ort, der bekannt für seine Handwerkskunst und ausschweifenden Wanderungen in die Berge war. Für Wanderungen hatten wir an diesem Nachmittag eh keine Zeit mehr. Das kleine Dorf, dessen Name mir entfallen ist, wartete mit viel Ruhe auf. Überall zwitscherten die Vögel, lagen die Hunde vor sich hingähnend und mit halbgeschlossenen Augen auf der Mitte der Straße, marchierten die Kühe gemächlich vor uns her, trieben Dorfbewohner ihre Ziegen zur Weide und hallten Grüße zu und von uns an die Einwohner herum. Ein idyllischer Ort. Zuerst hatten wir vorgehabt, zu einem wunderschönen Wasserfall zu fahren, der sich in der Nähe dieses Dorfes befand. Leider blieben wir unterwegs stecken, denn eine Kuhherde hatte sich uns in den Weg gestellt, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, uns durchzulassen. Wir spazierten also gemächlich durch das Dorf, bewunderten die uns umgebenden Berge und folgten Sylvias Mutter, die sich unerlaubt Einlass in die örtliche Kirche verschafft hatte. Das Tor war nicht verschlossen, warum sollte man also nicht auf Besichtigungstour gehen. In das Kirchengebäude kamen wir nicht hinein, aber unsere Streifzüge außen herum und durch den kirchlichen Garten waren ausreichend, um in vergangene Welten einzutauchen. Wir ruhten uns auf den Bänken ein wenig aus und fuhren dann zu einem – dem einzigen – Imbiss im Dorf, der sich neben dem zentralen Dorfplatz b
efand. Dort bereitete eine junge, schwangere Frau Tostadas vor, die sie mit Fleisch, Käse (für Augustas) und Salat (für mich) füllte. Dazu bot sie uns Chilisauce an, die uns regelrecht den Mund verbrannte. Wir tranken leckere, frische Limonade, die aus Früchten mit Wasser und Zucker gewonnen war.

Kaum zu Hause bereiteten wir gemeinsam ein Abendmahl vor. Sylvia hatte eine tolle Idee für ein veganes Gericht, dass sie mal eben in ihrem Kopf zusammengebraut hatte. Es schmeckte vorzüglich und wir versprachen, uns dafür am kommenden Tag an den Kochtopf zu stellen und sie diesmal zu verwöhnen.

Die Abende bei Sylvia verbrachten wir immer mit viel Reden. Der Gesprächsstoff ging uns nie aus, höchstens die Energie, denn Sylvia war nicht müde zu kriegen. Augustas war einmal so kaputt, dass er von Sylvia lieber vor den Fernseher gesetzt wurde, damit er dort seine Augen in Ruhe zumachen konnte und nicht irgendwann schlafend mit dem Kopf auf den Tisch aufschlug. Ich verliebte mich regelrecht in Sylvias Art und Weise, über das Leben, die Menschen, die Arbeit, das Reisen, Sprachen und Essen zu reden. Am meisten fesselten mich ihre Ausführungen über Japan und Kuba sowie all die anderen Reiseerlebnisse. Sylvia war so voller Leben und gut gelaunt, obwohl sie reichlich viel beruflichen Stress durchstand. Es machte mich glücklich in ihrer Gegenwart zu sein und insgeheim wünschte ich mir, in Zukunft in Stresssituationen genauso gelassen und fröhlich zu reagieren wie Sylvia.

Unsere Cuernavaca Stadtbesuche während des Tages bereicherten uns um vieles. Cuernavaca war eine bezaubernde Stadt, mit vielen Altbauten, die gar noch Stuck aufwiesen. Es gab faszinierende kirchliche Gebäude mit Gärten und Galerien, die mich von ihren Schaufenstern gar nicht wieder loslassen wollten. Wir entdeckten bei unseren ausgedehnten Spaziergängen auch eine Ausstellung in der Universität, in die wir umgehend hineinstürzten. Auch wenn nicht alle Arbeiten nach meinen Geschmack waren, bereicherten sie meine visuellen Bedürfnisse zum Vollsten. In der Akademie der Künste wurden gerade Tänze trainiert, so dass wir auch dort einen Blick hineinwerfen konnten. Wie immer liebte ich es durch die Universität zu laufen. Es gab mir so ein herrliches Wohlgefühl und erinnerte mich mit einem Lächeln an meinen Traum, eines Tages Kunst zu studieren.

Da es meinem Rücken nicht so toll ging, suchten wir in Cuernavaca nach einem Schwimmbad. Wir wurden fündig, doch als wir hineinliefen, mussten wir uns an Unmengen von Kindern und Jugendlichen vorbeizwängen. Als wir endlich sahen, was “Schwimmbad” in Cuernavaca bedeutete, hatten wir wenig Lust ins Wasser zu springen. Das Schwimmbad befand sich nämlich unter freiem Himmel und es war an jenem Tag nicht gerade warm. Außerdem zierten wir uns bei dem Gedanken daran, als einzige Ausländer im Schulschwimmbad unsere Runden zu drehen, während uns neugierige Nasen direkt von der Straße aus zusehen konnten.

Eigentlich erwogen wir, für einige Zeit auf einer organischen Farm in der Nähe von Tepoztlan zu verbringen. Felix, ein Servas Mitglied aus Xochimilco, hatte uns damals von der Farm erzählt und Kontakt zu den dortigen Bewohnern aufgenommen. Leider forderten die Farmer einen täglichen Mindestbeitrag für Essen und Umkosten, den wir bei unserem Budget nicht aufbringen konnten. Wir suchten uns also stattdessen ein neues Servas Mitglied, bei dem wir einige Tage verbringen konnten, denn wir warteten noch immer auf unsere Digitalkamera. Diesmal würden wir in die Nähe von Cuernavaca, nach Huitzilac, ziehen.

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