Sonnenaufgang in Valle de la Luna (Mai 18, 2008)
Juli 3, 2008
Themen: Chile
Vier Uhr dreißig am Morgen ertönte der Alarm. Verschlafen verkrochen wir uns etwas tiefer in unseren Schlafsäcken, bis wir uns des bevorstehenden Abenteuers gewahr wurden. Valle de la Luna (Das Mondtal) war unser Ziel und es galt diesen magischen Ort bis Sonnenaufgang zu erreichen. Innerhalb von fünf Minuten waren wir in voller Wintermontur gekleidet und liefen über die Mondlicht erleuchtete Koppel. Wir krochen durch einen Stacheldrahtzaun, um Weg und Zeit zu sparen. Kein leichtes Unterfangen, da auf der anderen Seite des Zaunes der Boden steil abfiel. Wir hatten es geschafft und stahlen uns unter Begleitung von fern ertönendem Hundegebell von dannen.
Mondlicht ist um diese Zeit eine hilfreiche Lichtquelle, im Falle der Mond leuchtet in die Richtung, in die man sich bewegt. Bei uns war es natürlich umgekehrt. Statt den Weg zu beleuchten, strahlte der Mond uns an und ließ uns wie Glühwürmer im Schwarz der Nacht erscheinen. Sonnenbrillen hätten es in dem Falle eventuell getan, aber auf diese Idee kamen wir zu so früher Morgenstunde und bei den eisigen Temperaturen nicht.
Wir tasteten uns vorwärts, bis wir einen Fluß erreichten. Gekonnt stieg Augustas mit seinen langen Beinen darüber. Nachmachen konnte ich ihm das an dieser Stelle nicht. Meine Beine waren einfach zu kurz und ich wäre über kurz oder lang mit einem Satz im Fluß gelandet. Die Übergangsstelle war schließlich gefunden, obwohl auch nicht ideal für meine Beinmaße. Augustas stellte sich also auffangbereit mit mir entgegengestreckten Armen bereit. Ich nahm Anlauf. Meine Schnelligkeit tat das Übrige und schon fand ich mich auf der anderen Seite wieder.
Kaum hatten wir dieses Hindernis überwunden, fielen wir nahezu über einen toten Hund. Wir erschraken. Der Hund war entlang seiner untersten Brustrippen diagonal entzwei geteilt. Mir ging ein Schauer durch Mark und Bein. Gab es hier vielleicht doch Hyänen oder ähnliches Getier, dass uns im ungünstigsten Fall über den Weg laufen würde? Wir sahen uns vorsichtig um. Nichts rührte sich. Wie war der Hund nur derartig zugerichtet worden? Wer war in der Lage, einen Hund auf diese Weise regelrecht zu zerschneiden? Das arme Tier. Wir spekulierten, dass es wohl krank, unterernährt oder verletzt war, sich bis in die Wüste geschleppt hatte und dort sein Hundeleben ließ. Die Extremtemperaturen in der Atacamawüste, mit starker Sonneneinstrahlung tagsüber und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt in der Nacht, hatten ihn völlig ausgetrocknet und zur gleichen Zeit gewissermaßen konserviert. Doch wie war er in zwei Stücke zerbrochen? Konnte es das Werk eines Pferdes sein, dass bei einem Ausritt aus Versehen auf ihn getreten war?
Der Mond, der uns wie Scheinwerfer auf einer Bühne anleuchtete, machte es unmöglich, den Weg zu sehen. Jeder Schritt war eine Stolperpartie. Mir knickten die Füße bei jedem Schritt abwechselnd nach links und rechts. Geradlinig kann ich dieses Fortschreiten wirklich nicht nennen. Zusätzlich erschwerte uns der puderhafte Wüstensand das Vorankommen, bei dem aus einem Schritt ein halber wurde. Wir mußten irgendwie bis zur Autobahn in Richtung Valle de la Luna gelangen, doch ständig kreuzten uns neue Wege, die alle an irgendeinem Punkt eine Wendung in Richtung San Pedro nahmen. An dieser Stelle hätte ein Kompass wahre Wunder getan. Wir hatten einen Kompass, doch wie immer, befand er sich nicht an Ort und Stelle. Dabei hatte ich ihn extra zum Zelt mitgenommen, damit wir ihn für diesen Ausflug nutzen konnten. Als wir etwas orientierungslos durch die Gegend liefen, wurde der Gedanke an den vergessenen Kompass hellwach und schlüpfte unbemerkt aus meinem Mund.
– Warum hast du das bloß nicht gesagt?, entgegnete Augustas.
Du hast nicht gefragt. Deswegen habe ich ihn vergessen.
– Ich habe noch gedacht, ‘Wir benötigen den Kompass, aber ich frage Katja lieber nicht danach. Den hat sie sicher wieder an einem unerreichbaren Ort deponiert.’
Mundwinkelbreitziehendes Schweigen. Wir mußten unseren Weg also ohne Kompass meistern. Gut, dass wir zumindest eine grobe Landkarte der Gegend um San Pedro besaßen. Wir dankten in diesem Moment Gražina und Danielus, die uns das gute Stück in Tacna, Peru, vermacht hatten.
Wir stiefelten querfeldein in Richtung Bergkette, denn dort sahen wir ab und zu das Licht eines LKWs aufblitzen. Nach einer knappen Stunde fanden wir endlich die Straße. Wir mußten uns beeilen, wollten wir den Sonnenaufgang in Valle de la Luna noch erleben.
Nach einer halben Stunde verschwand der Mond mir nichts dir nichts innerhalb kürzester Zeit vollständig. Was blieb war Dunkelheit. Unsere Augen hatten sich Gott sei Dank bereits an die Schwärze der Nacht gewöhnt. Uns umgab nun eine Stille, die unheimlich wirkte. Kein Mond, keine Sonne, keinerlei Geräusch. Das einzige, was wir vernahmen, waren unsere Schritte auf dem asphaltierten Boden und unsere Stimmen. Plötzlich leuchtete ein Scheinwerfer von einem Berg hinunter, direkt in unsere Richtung. Uns kroch ein Schauer über den Rücken. Wer hielt sich wohl um diese Zeit auf dem Berg mit solch einer kraftvollen Leuchte auf? Hatte man uns gesehen? Und wenn, würde man uns verfolgen? Wir legten einen Gang zu, bis Augustas meinte, wir wären auf dem falschen Weg. Ich konnte dem nicht glauben und wehrte mich deswegen gegen seinen Vorschlag, die Straße bis San Pedro zurückzulaufen und auf der Autobahn Richtung San Pedro einen
Lift zu suchen. “Wir schaffen das auf diese Weise eh nicht mehr bis Sonnenaufgang zur Valle de la Luna.” Ich sträubte mich gegen sein Vorhaben und schaffte es mit viel Redekunst, ihn weiter in die eingeschlagene Richtung zu ziehen. Das zahlte sich fune;nfzehn Minuten später aus, als wir ein Straßenschild mit den vor uns liegenden Orten entdeckten. ‘Valle de la Luna’ stand auf dem Schild geschrieben, dass nach rechts zeigte. Wir waren völlig richtig. Ich triumphierte mit einem breiten Grinsen und weiter ging’s.
Wir näherten uns dem Kontrollpunkt, wo eigentlich ein Eintrittspreis zur Valle de la Luna gefordert wird. In diesem Moment waren wir dankbar, dass der Mond sich bereits verabschiedet hatte, denn wir nahmen nicht die obligatorische Abzweigung zum Registriergebäude. Wir liefen einfach geradeaus. Licht war aus der Ferne nicht zu sehen. Die Wächter schienen entweder zu schlafen oder erst am Morgen in dieser Station aufzutauchen. Fünf Uhr morgens schien jedoch für den Antritt der Arbeit an diesem Ort zu früh. Wir bangten um die möglichen Wachhunde, die uns auf die Weite hätten riechen und hören können. Mit angehaltener Luft und zügigen Schritten fegten wir an diesem kritischen Punkt unseres Ausflugs vorbei.
Das Hundegebell blieb aus. Als wir außer Sichtweite waren, entledigten wir uns umgehend der obersten Kleidungsschicht. Wir hatten uns mittlerweile warm gelaufen, so dass unsere Füße anfingen zu dampfen. Kaum waren wir fertig mit der Ausziehaktion, kroch die Kälte schon wieder in unsere Glieder und trieb uns schneller vorwärts.
Stück für Stück brach der Tag hinter uns an. Wollte der Sonnenaufgang uns einholen? Wir liefen uns die Hacken wund, bis endlich das Willkommensschild “Valle de la Luna” vor uns erschien. Nun mußten wir nur noch die Gipfel erklimmen, um das Erwachen der nachts grau und kalt erscheinenden Sand- und Steinhügel beobachten zu können. Wir überquerten eine Brücke, zogen freudig an einem weiteren, unbesetzten Kontrollpunkt vorbei und stiegen die Straße zur Valle de la Luna empor.
Nach einer weiteren Ausziehaktion, begannen die Sonnenstrahlen über die Hügelspitzen zu klettern. Die Nacht wich allmählich dem anbrechenden Tag. Tru;be, unheimliche Gebilde verwandelten sich in majestätische Gesteinesbrocken. Uns verwandelte die aufsteigend
e Sonne in zwei unförmige Schattengestalten, was uns Anlaß zu ausgiebigen Kaspereien gab. Die Hügel nahmen erstaunliche Formen an und zogen uns mit tausend verschiedenen Rot-, Gelb- und Lilatönen in ihren Bann.
Vom Weg absichtlich abgekommen, stapften wir eigenartige Sandberge hinauf, die auf den ersten Blick aus purem Gestein bestanden. Kaum betraten wir die Felsblöcke, zerbrach die obere Schicht unter unserem Gewicht. Darunter zeigte sich die wahre Konsistenz dieser Hügel: loser Sand. Das Kraxeln entlang der Berge fühlte sich ähnlich wie bei Pappschnee an. Vereinzelt tauchten Ruinen von ehemaligen Wohnhäusern auf, die wir bis in die letzten Winkel inspizierten. Auf einem der Hügel angekommen, bot sich uns ein Blick auf das Tal. Still und unbeschreiblich schön spiegelte sich die Wüste in einer Farbenpracht wieder, die von Sand- über Rot- bis hin zu Blau- und Brauntönen reichte. Die langsam hervorkriechenden Sonnenstrahlen gaben diesen Farben eine Intensität und Wärme, die einfach überwältigend ist.
Eigentlich wäre ich liebend gerne noch weiter diese pappähnlichen Hügel hinaufgestiegen, doch wir waren bereits weit von unserem Weg abgekommen. Augustas drängte mich zur Rückkehr auf die Straße, entlang derer sich die Gegend immer weiter in eine wahre Mondlandschaft verwandelte.
Ein Wüstenberg mit gewellten Sandformen, so wie wir ihn von Bildern der Sahara her kannten, baute sich vor uns auf. Wir stürmten darauf zu, doch bevor wir uns an den Aufstieg machten, schrieb Augustas mit seinen Beinen eine 30 in den Sand. Dazu schlürfte er seine Schuhe durch den Sand und hüpfte teilweise wie ein Frosch von der Drei zur Null und umgekehrt. Erst am Vortag hatte er dieses Alter erreicht und mit diesem Ausflug setzten wir die dementsprechend ausgiebige 30-Jahr-Feier mit vollem Elan fort. Nachdem Augustas sich von der dabei in seinen Schuhen angehäuften Sandladung befreit hatte, stiegen wir keuchend zum Gipfel hinauf. Der Blick, der uns hier freigegeben wurde, ist unbeschreiblich. Es ist schlichtweg atemberaubend. Ergreifend. Wir sogen dieses Bild in uns auf und gaben uns der Atmosphäre mit all unseren Sinnen hin. Wir fühlten uns mächtig, stolz, Teil dieses Universums. Valle de la Luna trug ihren Namen zu recht. Wir kamen uns vor, als wären wir die ersten Erdenbürger, die dieses Fleckchen Erde entdeckt hatten, da wir die einzig sichtbaren Wesen an diesem Ort waren.
Völlig glücklich und eins mit uns selbst nahmen wir auf diesem Hügel unser wohlverdientes Frühstück ein. Während uns saftige Äpfel, Birnen und Mandarinen die Kehlen hinunterglitten, beobachteten wir ein Privatfahrzeug. Es kam vom offiziellen Eingang zur Valle de la Luna und steuerte ohne Umwege in zügigem Tempo auf den provisorisch angelegten Parkplatz vor unserem Berg zu. Das Auto hielt mit einem Ruck an, eine Frau lehnte sich aus dem Fahrerfenster und machte zwei drei Fotos. Danach verschwand sie so schnell wie sie gekommen war. Die Stille kehrte an diesen magischen Ort zurück. Wir fragten uns, ob dies wohl eine Touristin gewesen war. Sahen so die Besuche einiger Leute aus, die Naturwunder oder sonstige Attraktivitäten in ihrer ‘Ich war hier!’-Liste sammelten? Oder war es jemand, der extra wegen diesem Foto zur Valle de la Luna zurückgekehrt war? Vielleicht handelte es sich um eine Reiseagentin, die für die Bewerbung ihrer Ausflüge ein entsprechendes Foto benötigte. Wir rätselten lange. Die Antwort blieb uns jedoch verwehrt.
Es war an der Zeit, unseren Thron über der Valle de la Luna aufzugeben. Das Hinuntergleiten von unserem Sandhügel glich einer Rutschpartie. Es gab uns das Gefühl, wir wären zu Riesen herangewachsen und erreichten mit nur drei Schritten den Fuß des Berges. Emotionsübersprühend machten wir weitere Fotos von Augustas Fußgezeichneter Dreißig. Ich setzte mir gar in den Kopf, ein Foto aus Himmelperspektive zu machen und stieg den steilen Berg vor uns hinauf. Da auch hier das Gesetz der Pappmache galt, brach ich bei jedem Schritt ein. Der steile Aufstieg nahm eine Form des Rückwärtsrutschens an, denn sobald ich einbrach, bewegte sich ein Großteil des unter meinen Füßen befindlichen Sandes um einen halben Meter bergab. Mit meiner genialen Idee der Himmelsperspektive versuchte ich die Bodenkonsistenz zu ignorieren, bis ich knapp drei Meter vor dem Ziel aufgeben mußte. Ich war mittlerweilen in einer arg misslichen Lage, die mich zu äußerster Vorsicht zwang, wollte ich nicht den Berg in einem Zug hinunterrutschen. Brenzlig war die Situation insofern, dass ich knapp neben dem Abgrund hochgekraxelt war. Würde die äußere Pappschicht wegbrechen, bräuchte ich einen Fallschirm, um nicht wie eine Riesenkartoffel hinunterzuplumpsen. Die Auswirkungen mal Beiseite gelassen. Mittlerweile waren gar all meine Halterungen, die meinen Händen als Sicherheit gedient hatten, zu Puderzuckerweichem Wüstensand geworden. Halt suchte ich vergeblich. “Ich komme zurück, Augustas! Hilf mir, mich hier wieder hinunter zu bugsieren!” Augustas war alarmiert. Meine Ersteigungsidee hatte ihm von Anfang an nicht gefallen. Besorgt stellte er sich ans Ende des Berges. “Sag mir, wo ich hintreten soll, ich kann im Rückwärtsgang nicht sehen.” Augustas navigierte mich vorsichtig, bis ich in seine Reichweite gelangte. Für den letzten Stück des Weges ersetzte Augustas gar mit seinen Händen die Steigösen, denn mein Untergrund war alles andere als bodenfest. Schließlich rutschte ich in Augustas Arme und vorbei war meine Idee der Himmelsperspektive.
Kurz vorm Gehen stellte sich heraus, dass der Objektivdeckel verloren gegangen ist. Wir liefen umher und ich versuchte gedanklich zu rekonstruieren, wo wir überall entlang gelaufen waren. Kaum erinnerte ich mich, wo ungefähr der Deckel verloren gegangen sein mußte, grub ich mit meinen Schuhen im Sand. “Was machst du da? Auf die Weise wirst du den Deckel nicht wiederfinden. Wahrscheinlich ist er bereits von Sand überdeckt. Es ist unmöglich ihn wiederzufinden, lass uns gehen.” Augustas negative Haltung ignorierte ich gekonnt und stöberte weiter mit meinen Zehen und Händen im Sand herum. Ich lief hin und her, suchte den Fuß des Berges ab, schärfte meinen Blick beim Umherschweifen, doch letztendlich mußte ich Augustas Recht geben. Der Deckel hatte sich bereits verkrochen und würde wohl nur als historischer Schatz in einigen tausend Jahren wiederentdeckt werden. Zumindest haben wir damit zur Geschichte der Menschheit beigetragen.
Wir liefen bewegt von der Energie im Valle der la Luna die Straße entlang. Ein Auto kam uns im Schritttempo hinterhergefahren und hielt an. Wir dachten, dass wir schließlich und letztendlich zur Kasse gebeten werden, da wir ohne Bezahlung das Tal betreten hatten. Ein Herr stieg aus, auf dessen T-Shirt sich abzeichnete, dass wir es hier mit einen der Wächter zu tun hatten. Ich war der festen Überzeugung, dass wir unseren Eintritt insofern bezahlt hatten, dass wir von 4:30 Uhr morgens von San Pedro zu Fuß bis zur Valle de la Luna gelaufen waren. Ich war kampfbereit, im Falle er würde uns zu einer Begleichung der Eintrittskosten bewegen wollen. Doch es kam anders. “Seit wann sind sie hier?”, fragte der Wächter. Wir erklärten uns kurz, woraufhin er meinte, “Gehen Sie auf jeden Fall nicht in diese Richtung, das Betreten dieses Gebietes ist verboten.” Er zeigte nach links auf eine Sandmauer, die am Horizont blinzelte. Vielleicht vermutete er, dass wir genau aus der Richtung gekommen waren. Wir verstanden seine Sorge um dieses Fleckchen Erde und versicherten, diesen Ort weder angestrebt, noch bereits betreten zu haben. Er stieg wieder ein und während wir weiter gingen, rief er uns noch zu, “In drei Kilometern erreicht ihr Tres Marias (Drei Marias).” Ich nahm an, dass er von der Kreuzung sprach, die uns zur Autobahn und somit zu
rück nach San Pedro bringen würde. Wir dankten und folgten frohgemut der Straße entgegen des Eingangs zur Valle de la Luna.
“Laß uns trampen, wenn ein Gefährt auftaucht”, schlug Augustas vor und ich stimmte enthusiastisch ein. Als jedoch der dritte Wagen des Tages, ein Touristentransport, an uns vorbeischlich, waren wir uns unschlüssig. Wollten wir so schnell die Valle de la Luna verlassen? Noch immer von Zweifeln ergriffen, ließen wir diese Chance davonsausen. Wir bereuten es bald. Kurz darauf erschien ein Wagen aus der anderen Richtung. Auch hier waren wir nicht in der Lage, unseren Daumen zu heben. Letztlich sahen wir allerdings, dass das Wageninnere vollgestopft mit menschlichen Körpern war. Wir verspürten Erleichterung, dass wir diesmal zwar die Chance sausen ließen, aber letztendlich sahen, dass wir eh keinen Platz gehabt hätten.
Die Uhr kroch auf 10 Uhr zu. Eine Zeit, in der sich die Sonnenstrahlen reichlich intensivierten und meine Nase attackierten. Da wir stark von rechts angeleuchtet wurden, positionierte ich meinen Hut entsprechend. Schräg auf meiner rechten Gesichtshälfe hängend, marschierten wir weiter, doch die Sonne fand trotzdem ihren Weg zu meiner Nase. Mit unserer Lichtschutzfaktor 15 Sonnencreme konnten wir in dieser Gegend von den Naturgewalten nicht ernst genommen werden. Wir liefen weiter, endlos weiter. Die Hitze machte uns zu schaffen und unsere Füße träumten intensiv von einer Massage. Doch nichts da. Ansatzweise schlug ich vor, lieber wieder zum Eingang der Valle de la Luna zurückzukehren, mit der Absicht, dort auf ein Gefährt zu warten. Augustas hielt nichts davon und ich gab ohne Diskussion auf. Schweigend kämpften wir uns entlang der Wüstendürre, bis plötzlich der Sand zu blinken anfing. Was war das wohl? Glasscherben? Ungeahnte Kräfte ließen uns auf die funkelnden Hügel zulaufen. Wir inspizierten die Wunder und es stellte sich heraus, dass die Hügel weitreichend mit Salzkristallen bedeckt waren. Mit viel Druck brachen wir zwei dieser Wunder aus dem Gestein und verloren uns staunend in diesen funkelnden Naturschätzen.
Spätestens jetzt registierten wir, dass wir eine Richtung eingeschlagen hatten, die weit von unserer Idee von diesem Tag abwich. Ursprünglich freuten wir uns insgeheim, so früh am Morgen zum Valle de la Luna Abenteuer aufgebrochen zu sein, denn spätestens gegen 9 oder 10 Uhr wären wir zurück und könnten unsere Arbeiten erledigen. Pläne, wie üblich, funktionierten bei uns einfach nicht. Wer weiß denn schon, was im nächsten Moment passiert? Wie akzeptierten unser Schicksal und waren neugierig, warum es uns weiter in die entgegengesetzte Richtung trieb.
Wir krochen weiter in der mittlerweile heißesten Zeit des Tages. Meine Füße fühlten sich einem Kollaps nahe. Um dies zu vermeiden, entschied ich am nächsten Hügel halt zu machen. Dort könnten wir zumindest im Schatten sitzen, was uns beim Laufen durch die Wüste verwehrt blieb. Ich steuerte darauf zu, doch halt! Am Horizont entdeckte ich zur gleichen Zeit den Touristentransport, der zuvor an uns vorbei geschlichen war. Hellwach und ohne meinen Füßen Raum zu Murren zu geben, steuerten wir schnellen Schrittes auf den Wagen zu. Schnell ist gut gesagt, es kostete uns weitere 1,5km Fußmarsch, bis wir das geparkte Fahrzeug endlich erreichten. Während wir dem Wagen näher kamen, sahen wir den Fahrer rechts in der Wüsten-Stein-Landschaft herumschwirren. Was er wohl dort suchte? Endlich entdeckten wir, dass er ein paar Ruinen inspizierte. Wir erkannten Ansätze von Häusern, eine Brücke und die bemerkenswerten, unnatürlich hochgewachsenen Steinsgebilde. Ich lief gar nicht erst bis zum Parkplatz, sondern gleich querfeldein. Was waren das nur für Steine? Wie waren die hierhergekommen? Mit der Kamera bewaffnet, versuchte ich hinter das Geheimnis dieser Felsbrocken zu kommen.
Nachdem ich mich sattgesehen hatte, gesellte ich mich zu Augustas, der sich im einzigen Schatten auf dem Parkplatz breit gemacht hatte. Er saß ausgerechnet hinter dem Stein, der erklärte, dass es sich bei den Steinsgebilden um die Tres Marias (Drei Marias) handelte. Das Rätsel des Parkwächters löste sich schließlich auf. Das hieß allerdings, dass die Straßenkreuzung bis zur Autobahn in Richtung San Pedro noch ein ganzes Stück entfernt lag. Seufzend schlürften wir unsere letzte, saftige Honigmelone und überlegten, wie und wann wir den Fahrer des Touristenbuses ansprechen sollten.
Wir schluckten gerade den letzten Bissen Melone herunter, als zwei weitere Touristenbusse eintrafen und eine Horde von Ausländern auf die Tres Marias zustürmte. Inmitten des Gewimmels entdeckten wir die Reiseleiterin, die wir sogleich um unsere Mitnahme bis zur Autobahn baten. “Es tut mir leid, aber das kann ich nicht machen. Ich würde meinen Job verlieren. Stattdessen könnte ich dem Parkwächter zufunken (per Walki-Talki) und ihn bitten, euch bis zur Autobahn zu bringen. ‘Nein, bloß nicht!’, schoß es uns durch den Kopf. Wir fürchteten noch immer, dass wir spätestens am Ausgang des Valle de la Luna Gebietes zur Kasse gebeten würden. Der Vorschlag der Dame gefiel uns wenig. Wir bedankten uns und ließen die Reiseleiterin mit ihrer Reisegruppe zurück, ohne uns weiter zu erklären. Wir setzten unseren Weg zu Fuß fort und hofften inständig, das der Parkwächter uns am Ausgang ohne Probleme von dannen ziehen läßt.
Nach den Tres Marias schlug die Straße eine starke Kurve nach rechts und fiel alsbald steil ab. Während wir noch beim hinuntertapsen waren, fuhren die Reisebusse bereits an uns vorbei. ‘So schnell?’, dachten wir und sahen den Touristen mitleidig hinterher, denn in unseren Augen hatten sie die Schönheit dieser Gegend weder richtig gesehen noch verstanden. Gerade auch jetzt, als sie an uns vorbeibrausten, entdeckten wir links neben der Straße eine faszinierende, weitläufige Wüstenebene, die zuerst talartig abfiel, um daraufhin auf wenigen Metern bis zum Himmel reichend anzusteigen. Der Blick auf diese Schönheit rief das Bedürfnis hervor, in den Sandwellen einzutauchen. Der Höhenunterschied, den es dafür zu überwinden galt, hätte allerdings eher zu einem zehn Meter Kopfsprung, als zu einem sanften ins Sand gleiten geführt. Wir ließen also von dieser Idee ab.
Der Parkwächter hatte uns nichts weiter zu sagen. Auf Anfrage erfuhren wir jedoch, dass unser Ziel, die Autobahn nach San Pedro, noch knappe 6 Kilometer vor uns lag. Wir schluckten. Sechs Kilometer? Erst schienen es drei und jetzt hatte sich die Strecke verdreifacht. Wir hatten keine Wahl, wir mußten uns auf die 6 Kilometer einlassen, denn zurücklaufen machte an diesem Punkt keinen Sinn mehr. Erfreulich war jedoch die Nachricht, dass nicht weit vom Ausgang ein direkter Blick auf die Cordillera de Domeyko (Domeyko Bergkette) auf uns wartete.
Wir erreichten das historische Bergstück, dass Augustas mit Stolz erfüllte. Ignacy Domeyko (1802-1889) war ein berühmter polnischer Geologe und Mineraloge des 19. Jahrhunderts. Er wuchs in der Kultur des ehemaligen Polnisch-Litauischen Reiches auf und ist von nationaler Bedeutung für Weißrussland, Chile, Litauen und Polen. Domeyko studierte an der Wilno Universitete (Vilnius Universität) und Paris’ École des Mines. Er war Professor an einer Bergbauhochschule in Coquimbo (La Serena, Chile) und später an der Universidad de Chile, wo er 16 Jahre lang (1867-83) als Direktor tätig war.
Domeyko leistete beträchtliche Beiträge zur Mineralogie und Bergbautechnologie, studierte mehrere zuvor unbekannte Minerale, war Befürworter für die Zivilrechte des einheimischen Stammesvolks von Chi
le als auch Meterologe und Ethnograf.
Nach ihm ist nicht nur die Bergkette in den Anden, Cordillera Domeyko, benannt, sondern auch eine chilenische Stadt namens Domeyko, das Mineral Domeykit, der Shellfisch Nautilus domeykus, der Ammonit Amonites domeykanus und der Asteroid 2784 Domeyko.
An seinem 200sten Jahrestag seit Domeykos Geburt deklarierte die Unesco sogar das Jahr 2002 als “Ignacy Domeyko Jahr.”(*)
Nach der überwältigenden Konfrontation mit Domeyko, kroch ich in den einzig verfügbaren Schatten und studierte den Lageplan. Was vor uns lag war nichts weiter als eine flache, Stein-Staub-trockene Ebene durch die eine ähnlich ausgestattete Piste führte und eine erbarmungslos auf uns niederbrennende Mittagssonne. Stöhnend schliff ich meine Beine weiter, bis sich eine unbefestigte Straße rechts von uns auftat. Straße ist wohl übertrieben, denn alles was wir sahen, war ein Weg, der ab und an von Fahrzeugen als querfeldein-Lösung genommen wurde. Da wir die Autobahn bereits teilweise am Horizont sehen konnten, entschieden auch wir uns einfach diagonal durch die Wüstenlandschaft zu bewegen. Die Chance, auf diese Weise per Anhalter mitgenommen zu werden, sank auf minus 10, aber wer weiß, ob es auf der anderen Strecke zu einem Lift gekommen wäre. Wir liefen, liefen, und liefen. Wir hörten auf zu denken, denn die Sonne ließ so viel Hirnaktivität einfach nicht zu. Der Boden brannte regelrecht unter uns und stob in allen Richtungen Hitze hervor, die kräftig flimmerte. Das Flimmern erzeugte das Trugbild, das die Autobahn zum Greifen nahe war. Doch so sehr wir auch liefen, wir erreichten sie nicht. Ab und an begegnete uns ein kleiner, grüner, stacheliger Busch, der darauf hinwies, dass es sehr wohl Wasser in dieser Dürre geprägten Gegend gab. Einmal sahen wir gar eine winzige Pflanze, die mit ihren lila-farbenen Blüten der Wüste ihren hartgesottenen Charakter nahm. Alles ist möglich, das verstanden wir spätestens jetzt.
Eine Stunde nachdem wir die Abkürzung genommen hatten, sanken wir kraftlos auf den Boden. Wir hatten unsere Köpfe und Oberkörper bereits mit allen möglichen Kleidungsstücken behangen, um zumindest die Intensität der Sonnenstrahlen abblocken zu können. Wir rissen uns die Schuhe von den Füßen, pellten uns aus den Socken und streckten unsere Beine weit über unseren Köpfen in die Höhe. Nachdem das Blut wieder zum Zentrum unseres Körpers zurückgekehrt war und die Füße erleichtert vor sich hin pfiffen, saßen wir zusammengekauert auf dem Boden, die Rücken rund wie eine Kugel, die Arme schlapp an der Seite baumelnd und die Hände auf dem steintrockenen Boden liegend. Summiert man zu diesem Bild unsere über den Kopf gehangenen Kleidungsstücke, die einen minimalen Sehschlitz übrig ließen, müssen wir von weiten wohl wie Jacken mit Beinen ausgesehen haben. Wir labten uns intensiv an unseren letzten Wasservorräten und brachen eine halbe Stunde später zum restlichen Stück dieser Reise auf.
Außer ein paar Lamaexkrementen, bot sich uns nichts neues auf diesem Weg. Vielleicht sahen wir es aber auch nicht mehr, denn unser einziger Gedanke galt der vor uns liegenden Autobahn. Eine weiter Stunde später erreichten wir endlich die Straße und waren den Straßenbauingenieuren dankbar, die genau an dieser Stelle ein riesiges Straßenschild angebracht hatten. Das es auf der anderen Straßenseite stand, störte uns wenig. Wir fielen wie zwei nasse Säcke in den Schatten und erwachten Stück für Stück zu neuem Leben. Die Autobahn war gähnend leer, was uns in diesem Moment eine Wohltat war. Knappe 15 Minuten später tauchte aus der Calama Richtung kommend ein Bus auf. Das war unser Zeichen, die Daumen hochzuhalten, wollten wir nicht noch den Rest des Weges zu Fuß vermessen. Der Bus verringerte seine Geschwindigkeit und kam letztlich neben uns zum Stehen. “Würden Sie uns bitte bis San Pedro mitnehmen?”, fragten wir hoffnungsvoll und mit sichtlich bettelnden Augen. Der Busfahrer lächelte, nickte und ließ uns mit einer willkommenen Bermerkung einsteigen. Erschöpft sanken wir in die weichen Sitze. Der Bus gehörte zum Unternehmen einer Kupfermine und wir waren die einzigen Insassen zu diesem Zeitpunkt. Wir schloßen unsere Augen und öffneten sie genau in dem Moment, als wir durch die mystische Landschaft der Cordillera del Sal (Salzbergkette) fuhren. Ein bewegender Abschluß unseres Ausflugs.
Übermüdet und kraftlos, aber doch ausgesprochen glücklich, erreichten wir San Pedro. Dort ging eine Odysee durch Restaurants los, da wir der Meinung waren, keine Kraft zum Kochen übrig zu haben. Wir fanden schließlich ein Örtchen, in dem vor allem die Einheimischen von San Pedro speisten. Das Mahl begann mit einem kalten, frischen Salat, gefolgt von Kartoffelmuß für Augustas und Spaghetti für mich. Als Hauptattraktion unserer Speise grinste uns ein frittierter Fisch an. Obwohl ich mir aus Laktoseunverträglichkeitsgründen Spaghetti bestellt hatte, mußte ich beim ersten Bissen feststellen, dass auch die kräftig mit Butter versehen waren. Mir schwirte die Frage nach dem eventuellen Butterzusatz zuvor im Kopf herum, aber da wir fast täglich Reis aßen, wollte ich nicht auch noch im Restaurant dieser Speise fröhnen. Ich schwieg also und ließ mir die Nudeln servieren. Das Resultat war, dass ich nach 3 Löffeln Spaghetti nur noch an meinem Fisch herumknabbern konnte, der obendrein viel zu fettig war. Das Essen war nicht schlecht, doch es war bei Weitem nicht das, was uns in einem Restaurant zum Abschluß eines so aufregenden, intensiven Ausflugs vorschwebte. Alles in allem füllte es jedoch unsere Bäuche. Da meine Spaghetti fast unangetastet blieben und der Fisch in voller Größe nicht in meinen Magen passte, sicherten wir auf diese Weise zusätzlich Augustas Abendbrot. Was wollten wir mehr?
Wir schlürften zu Stephanies Haus und fielen, das erste und einzige Mal, auf einen Schlag in des Gästezimmers Bett, welches wir als Abstellraum für unser Hab und Gut benutzten. Eigentlich wurde uns am Vortag gesagt, dass wir das Zimmer wegen der bevorstehenden, am folgenden Tag durchgeführten Reinigung räumen sollten. Wir hatten es geräumt, doch bei Rückkehr von unserem Valle de la Luna Ausflug hatte sich am Zustand des Zimmers nichts geändert. Stunden später, als Stephanie bereits von der Ranch zurückgekehrt war, erwachten wir aus unserem Erschöpfungsschlaf und planten mit Stephanie den kommenden Tag, an dem sie uns auf einen Reitausflug zur Valle de la Muerte (Todestal) eingeladen hatte.
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(*) http://en.wikipedia.org/wiki/Ignacy_Domeyko
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