Ein Ort zum Leben (October 12 – 18)

März 6, 2007  
Themen: Mexiko

In Kjells Wohnung bzw. der seiner Freundin Rosario, die zusammen mit ihrem Bruder dort lebt, wurden wir herzlich willkommen geheißen. Es gab herrlichen Tee und Knabbereien und wir genossen die Gesellschaft eines weiteren Hospitality Club Mitglieds namens Mike. Nach einiger Zeit erfuhren wir, dass wir nicht bei Kjell bleiben konnten, sondern bei Mike unterkommen würden. Für Mike, der zusammen mit seiner Freundin Joanna lebte, waren wir die ersten Gäste. Joanna holte uns ab und los ging es zu unserer Unterkunft.

Die Wohnung der Beiden war ausgesprochen gemütlich. Es war gar ein kleines Haus, was ganz allein ihnen gehörte. Zumindest solange sie die Miete dafür bezahlten. Als wir die Wohnung betraten begrüsste uns zu allererst Motita, der kleine, weisse, viel zu kluge Hund von Joanna und Mike. Es war Liebe auf den ersten Blick, obwohl Motita sich das nicht gleich anmerken ließ. Sie freute sich viel zu sehr, endlich nicht mehr allein ihr Dasein im Haus fristen zu müssen. Das erste Zimmer, das gleich hinter der Eingangstür lag, war leer, also ohne Möbel. Die Wände dieses Zimmers waren künstlerisch mit Kohlezeichnungen verziert. Auf der einen Seite hatte sich ein Freund von Mike verewigt, auf der anderen hatte Mike seine Zeichenkünste ausgelebt. Herrlich, in diesem Raum würden wir übernachten. Während der Nächte froren wir, da der Raum kaum Sonnenlicht abbekam und sich somit tagsüber nicht aufheizte. Gut das Mike und Joanna noch eine Decke übrig hatten, sonst wären wir vielleicht eines Morgens als Eiszapfen aufgewacht. Nach diesem Zimmer folgte ein kleiner Korridor, der überdacht, aber nach links hin offen war. Dort befand sich ein kleiner Hof, in dem man bei guten Wetter gerne draußen saß. Dahinter folgte die Küche, die größer als der erste Raum schien. Karg eingerichtet, erinnerte mich deren Küche an mein geliebtes Berliner Hinterhofdasein. Ach, wie ich es vermisste. Hier in San Cristobal schien ich ein Stück davon wiedergefunden zu haben. Ich genoss das Ambiente. Hinter der Küche lag Joannas und Mikes kreativ eingerichtetes Zimmer. An den Wänden hingen viele Fotos, die mich neugierige Nase gleich fesselten. Sozusagen im Zimmer, aber durch eine Tür abgetrennt, befand sich das Bad. Dort gab es kein warmes Wasser und eigentlich auch keine richtige Dusche. Das Wasser, was aus dem Duschkopf strömte, war dermaßen verkalkt, dass man, des Beiden Aussage zufolge, am Ende übersäht mit weissen Punkten aus der Dusche herauskäme. Deswegen musste vor einem menschlichem Waschgang erst Wasser auf dem Herd warm gemacht werden und mit kaltem Wasser gemischt in einem Eimer ins Bad transportiert werden. Wir waren solche Bäder ja zur Genüge gewohnt. Der Abschluß der Wohnung bildete ein weiterer kleiner Hof, der mit einem steinernen Waschbecken Raum für Handwäsche bot. Mike tobte auch gerne auf dem Dach herum. Leider schaffte ich es nicht bis dorthin, da ich zu klein war. Selbst Augustas mit seinen langen Gliedern hatte zu kämpfen, von dem Steinwaschbecken, auf die obere Türkante und dann in einem Satz auf das Dach zu klettern. Herunterkommen war umso schwieriger.

Nachdem wir uns die liebliche Hütte angeschaut hatten, gab es genügend Zeit zum Schwatzen. Mike stammt ursprünglich aus den USA und hatte vor einigen Jahren den Entschluß gefasst, durch die Welt zu reisen. Er nahm an einem Englischlehrerkurs in Mexiko teil, der eine große Wende in seinem Leben bedeuteten sollte. Zuvor ein sehr schüchterner Mensch, lebte er durch die Herausforderung des Lehrerdaseins, der Notwendigkeit Präsentationen zu geben und dabei seine Ideen mit anderen umzusetzen, richtig auf. Er ging aus sich heraus und erlebte, zu was er alles fähig war. Über sich selbst erstaunt, reiste er noch eine Weile in Mexiko umher, bis er in Tapachula, nahe der guatemalischen Grenze landete. Dort unterrichtete er für lange Zeit Englisch und lernte auf diesem Wege auch Joanna kennen. Sie war die Tochter der Familie, bei der er ein Zimmer gemietet hatte. Joanna und Mike wurden dicke Freunde, doch von Verliebtsein keine Spur. Mike hatte es auf Joannas Freundin abgesehen. Irgendwann funkte es aber doch und bald waren die Beiden zusammen. Zwischen diesen Ereignissen lagen aber glaube ich einige Monate, wenn nicht gar mehr als ein Jahr. Als Joanna mit der Schule fertig war, zogen die Beiden nach San Cristobal, um dort zu studieren. Mike entschied sich für ein Studium der Sozialwissenschaften, womit er ins Schwarze getroffen hatte. Das Studium verbunden mit der Arbeit in indianischen Gemeinden füllte ihn mit Glück. Joanna entschied sich für ein Englischstudium, denn sie wollte Lehrer werden. Beide verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit dem Unterrichten von Englisch. Während Mike Kurse für ältere Schüler, Studenten und Erwachsene gab, verbrachte Joanna viel Zeit mit dem Unterrichten von Grundlagenkenntnissen für Kindergartenkinder und gerade Eingeschulte. Mike und Joanna sind ausgesprochen liebenswerte Menschen, die uns ständig zum Lachen brachten. Wir konnten wirklich alles mit ihnen teilen, ob Erlebnisse, Gefühle, Vergangenes oder Träume, es gab zwischen uns keinerlei Grenzen. Eine Freundschaft, die wirklich auf den ersten Blick funkte.

Motita ignorierte uns anfangs ein wenig, doch als sie entdeckte, dass auch wir sie Gassi führen und mit ihr durch unbekanntes Terrain streifen würden (wie abenteuerlich!), wurden wir die dicksten Freunde. Jetzt war Motita zumindest tagsüber nicht mehr so lange alleine, obwohl wir sehen konnten, wie schmerzlich sie ihre Herrchen vermisste. Motita hatte auch ein kleines Problem, wahrscheinlich psychologischer oder aber trotziger Natur. Wenn sie Auslauf bekam und Zeit zum Leeren ihrer Blase hatte, dachte das Fräulein überhaupt nicht daran. Sie spazierte erhobenenen Hauptes, die Hinterbeine im regelmäßigen Rythmus hüpfend, die Strasse entlang. Fand sie eine andere Hundemarke, hob sie wie ein männliches Gegenstück ihr rechtes Bein und pinkelte auf die Stelle. “Ich war hier!”, sollte dies wohl bedeuten. Statt aber beim Pinkeln auch wirklich alles herauszulassen, schließlich gab es genug Hundemarken in der Umgebung, ging sie mit ihrem Blaseninhalt äußerst spärlich um. Man könnte ja einen Tropfen zu viel abgeben. Das Resultat war dann natürlich, dass sie bei Zurückkommen im Haus auslief. Das passierte bereits vor unserer Ankunft und ihre Herrchen konnten dafür keine Erklärung finden. Sie hofften mit viel Geduld das Problem lösen zu können. Davon brauchten sie allerdings eine ganze Menge, denn Motita hielt den Blaseninhalt auch nach stundenlangem Spazieren gehen auf und erlöste sich erst bei Rückkehr im Haus. Äußert rührend war, wenn ihre Herrchen einen jaulenden, wolfsähnlichen Ruf ausstießen. Dann stimmte Motita voll ein und jaulte mit ihrer hohen Stimme durch die ganze Wohnung.

Wir verbrachten in den Tagen in San Cristobal viel Zeit zu Hause, in denen wir neben der schriftlichen Aufarbeitung unserer Erlebnisse, auch viele Male für unsere Gastgeber kochten. Viele Abende verbrachten wir mit Tisch- oder Kartenspielen, als auch mit dem Treffen von Joannas und Mikes Freunden. Die meisten von ihnen waren auch Hospitality Club Mitglieder, eine Gemeinsamkeit, die sich in der Art und Weise des Umgangs deutlich bemerkbar machte. Einen Abend trafen wir uns in einer Kreativwerkstätte. Die war von außen nicht erkennbar und nur mit genauen Instruktionen auffindbar. Um uns Eintritt zu verschaffen, mussten wir bestimmte Rituale zelebrieren, damit uns jemand die Tür öffnete. In der Werkstätte angekommen, strahlten uns Wände voller, hochwertiger Graffiti an. Meine Augen fingen an zu leuchten. In einen der Räume fanden wir Kjell und einige andere Leutchen beim Schach spielen vor. Über dem Raum lag konzentrierte Stille. Augustas setzte sich sofort dazu. Ich stöberte weiter durch das Haus und kam bald in einem Raum an, in dem ein paar Künstler gerade am Druck eines neuen Plakates arbeiteten. Ich hätte liebend gerne mitgemacht, da sie aber einen gravierenden Fehler berichtigen mussten, da der Plakatd
ruck noch in der Nacht stattfinden sollte, gab es dazu keine Gelegenheit. Die Truppe war konzentriert am Werk und so mischte ich mich lieber unter die Schachspieler, obwohl ich zuvor nie ein Spiel gewagt hatte. Doch Augustas brachte mir im Nu die Regeln bei und ich fand mich bald in den Fängen der Schachfaszination wieder.

Einige Male trieb es uns des nachts auch hinaus in die Tanzstätten von San Cristobal, zusammen mit den ganzen Hospitality Club Freunden. Wir tanzten uns die Seele aus dem Leib, verbrachten Stunden lang quatschend auf dem Marktplatz und trafen während dieser Nächte gar auf zwei gestrandete Italiener. Als wir gegen 3 Uhr nachts durch die Straßen liefen, fielen uns zwei Traveller auf, die neben ihren Rucksäcken auf dem Bürgersteig sassen. Wir kamen ins Gespräch und erfuhren, dass die Hotels und Gasthäuser bereits alle geschlossen waren und sie keinen Eintritt bekämen. Vladimir erklärte sich also bereit, die Beiden bei sich unterzubringen. Die konnten ihr Glück gar nicht glauben, aber so ist das halt. Wir alle wussten ja nur zu genau, dass uns das gleiche Schicksal ereilen konnte. Am nächsten Morgen veranstalteten wir gar ein gemeinsames Frühstück, an dem auch die Italiener teilnahmen. Was für eine tolle Welt!

San Cristobal ist eine wunderschöne, kulturell faszinierende Stadt. Die Bauten glänzten mit einem besonderen, ja historischen Charme, der uns nicht wieder los ließ. Die Farben der Häuserwände, die Verzierungen, die Fenster, alles passte sich so gut zusammen. Die Strasse waren nicht zu groß. Oft liefen wir durch enge Gassen und auch die Treppen, die viele Straßen über Hügel hinweg miteinander verbanden, fügte ein Teil zu der unglaublichen Atmosphäre bei. San Cristobal ist eine Studentenstadt und international durchwachsen. Das zeigt sich an den verschiedensten Läden, die man bei einem Streifzug durch die Stadt entdeckt. Auch die vielen Restaurants zeugen von Internationalität. Wir haben gar arabische Mini-Restaurants gefunden, in denen wir leckere Falafel essen konnten. Dazu die farbenfrohen Märkte, auf denen noch farbigere Kleidungsstücke und Schmuck angeboten wurde. Das Besondere an diesen Märkte war, dass wir nicht zum Kauf gedrungen wurden, sondern einfach froh und munter durch die Angebote stöbern konnten. Dazu gab es viele Straßenverkäufer, die unter anderem typisch mexikanische Sandalen anfertigten. Unglaublich interessant fand ich auch die Kräuterläden. Sie erinnerten ein wenig an Hexenläden, in denen Berge voller Kräuter, getrockneter Blüten und geheimnisvoller Hexentinkturen zu finden waren. Ich benötigte zum Beispiel eine Kräutermischung, die mich von meinem Durchfall befreite. Und wer hätte es gedacht, aber dieser Tee half wirklich. Dieser Stadt fehlte in unseren Augen wirklich nichts. Wir hatten die Stadt von vorne bis hinten, von oben bis unten durchlaufen und befanden, dass San Cristobal der erste Ort war, in dem wir es uns vorstellen konnten zu leben.

Selbst die Umgebung von San Cristobal läßt nichts zu wünschen übrig. Eingebettet in Berge, versorgt mit einer reichhaltigen Biosphäre, verwöhnte uns San Cristobal bei Ausflügen in die Natur umso mehr. Und dazu mussten wir nicht einmal weit fahren, wir hätten die Strecke sogar in einer knappen Stunde zu Fuß schaffen können. Wir nahmen aber den Bus, als Joanna und Mike uns ihren Lieblingsplatz zeigen wollten. Kaum waren wir den Berg auf halber Höhe emporgestiegen, eröffnete sich uns eine herrliche Sicht über San Cristobal. Wir verweilten einige Zeit dort und machten uns dann zu einem Ort weiter oben auf dem Berg auf, wo angeblich Jesus erschienen war. Dort angekommen sahen wir zahlreiche behelfsmäßige Bauten aus starken Ästen mit einer Plastikplane als Dach. Diese schützten einen Stein, der ein Bild in schwarzer Farbe aufwies, dass als Gesicht Jesus identifiziert worden war. Die Form des Gesichtes hatte sich offensichtlich durch verschiedene Witterungsbedingungen auf dem Gestein geformt. Die Menschen in den Bergen glaubten aber fest daran, dass es sich hier um Jesus handelte. Sie versetzten dem Stein also einen Altar mit vielen Kerzenlichtern und Blumen sowie Essensgaben wie zum Beispiel Bananen und Mandarinen. Das Ziel war es, die Zulassung für den Bau einer Kirche um den Stein herum zu bekommen. Die Menschen, die sich um das Wohl Jesus dort oben kümmerten, waren sehr empfindlich, was das Fotografieren anging. Es war strikt untersagt. Wir hielten uns daran. Statt die ganze Szene auf einem Foto festzuhalten, setzten wir uns auf eine Bank und beobachteten die Besucher der geistlich-religiösen Stätte. Viele kamen gar mit Coca-Cola Büchsen und Chips zum Altar. Sie setzten sich davor hin und begannen ihr Mitgebrachtes vor dem Altar zu verspeisen. Religion hin und her, aber das fand ich dafür, dass dort angeblich Jesus erschienen war, reichlich respektlos. Mike erzählte uns viele Details zum Auffinden dieses Steines und auch über die Hintergründe des religiösen Glaubens. All das war aufgrund seines Studiums sein Spezialgebiet und er war glücklich darin gefangen, in dem Versuch, die Menschen und ihren Glauben zu verstehen. Denn gerade die Bergmenschen empfanden diesen Stein als Zeichen Gottes, der sie zu Jesus geführt hatte. Die Opfergaben in Form von Essen wurden übrigens in Beuteln neben den Altar gehangen. Sollte jemand Hunger verspüren, gab einer der religiösen Aufpasser der Person einen der Beutel, denn dafür waren die Gaben gedacht. Andere Besucher würden wieder neue Opfergaben bringen, damit die Früchte nicht ausgingen.

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