Bilderbuchfamilie (November 28 – December 9)

März 12, 2007  
Themen: Mexiko

Kaum waren wir von unserer aufregenden fünftägigen Reise zurück, fragte uns William, wie lange wir noch bleiben würden. Jetzt hatten wir ein kleines Problem, denn wir standen kurz davor, unsere Kamera endlich zu erhalten. Die Frage wurde aber auf eine Art und Weise an uns herangetragen, die eigentlich eine Aufforderung war, unsere Sachen zu packen. Als Grund stellte sich heraus, dass sich unverhofft eine Dame selbst bei ihnen eingeladen hatte und sie keine andere Wahl hatten, als uns woanders unterzubringen. Isabel fühlte sich einfach für die Dame verantwortlich. Noch dazu kündigte sich ein Paar für einen Aufenthalt im Haus an. Diese waren allerdings Freunde ihres Bruders, aber auch die wollten herzlich im Haus aufgenommen werden. Isabel löste die Situation, indem sie uns mit Alfredo und Lilia bekannt machte, die uns herzlich in ihrem Haus in Cuernavaca aufnahmen.

Lilia und Alfredo haben ein schönes, großes Haus, in dessen angrenzendem Garten gar ein Schwimmbecken auf das Trainieren meines Rückens wartete. Endlich hatten wir also das “Schwimmbad”, nach dem wir bereits seit Wochen gesucht hatten. Und diesmal würde uns keiner mit seinen ungewollten Blicken belästigen. Im Inneren des Hauses fand sich neben einem Computerraum mit Internetanschluss, eine geräumige Stube, ein großes Esszimmer und die Küche. Es gab in der Küchentür gar einen separaten Eingang für Oliver, dem etwas schnöseligen Familiendackel. Im ersten Stock befanden sich die Schlafzimmer der Familie und den zweiten Stock bildete eine Terrasse. Dort gab es eine winzige Bude, die gar über ein eigenes Bad verfügte. Das sollte also unser sein für die Zeit unseres Aufenthaltes.

Uns wurden sofort alle Essensvorräte gezeigt und wir wurden eingeladen, alles Vorhandene und Begehrenswerte zu verzehren. Die Küche wurde nur selten zum Kochen benutzt. Da Lilia und Alfredo es viel besser fanden, die Zeit sinnvoller als am Kochherd zu verbringen, besorgten sie jeden Mittag im naheliegenden Supermarkt die verschiedensten Speisen. Dort gab es nämlich ein Büffet, das eine reiche Palette an Salaten, Kartoffel-, Reis- und Nudelgerichten, Fleisch, Gemüse, Obst und Süssspeisen hatte. Nachdem jeder seinen Mittagsmahlwunsch zu Hause abgegeben hatte, zog Lilia los, um das Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Oft versorgte uns Lilia gar mit Sojamilch und -fleisch sowie anderen Leckereien, die wir als fleischlose Esser auf jeden Fall vertragen würden. Ach, es war jedes Mal ein Festschmauß. An einigen Tagen übernahmen wir das Kochen, um uns für die Gastfreundschaft zu bedanken. Als Augustas dann seine Eierkuchen servierte, schwärmten sie tagelang nur davon. Einmal meinten sie gar, dass wir bereits das zweite Vegetarier-Paar wären, das hintereinander bei ihnen Zuflucht fand. Alfredo erklärte ernsthaft, dass sie wohl eines Tages selbst zu Vegetariern würden, wäre da nicht die große Liebe zum Fleisch.

In Lilias und Alfredos Haus gab es immer Platz und Zeit für Jeden und Alles. Sie hatten eine Familie, wie viele sie sich wünschen. Da beide von Beruf Arzt waren und in einem Krankenhaus arbeiteten, entschieden sie sich für eine Halbtagsstelle, damit sie mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Die meiste Zeit des Tages waren sie also mit ihren Schützlingen Alfredo Jr. (11) und Liliana (13) beschäftigt. Dabei sprachen sie über die Schule, halfen bei den Hausaufgaben, tauschten Erfahrungen miteinander aus, schauten gemeinsam Filme, brachten die Kinder zu Mathematikzirkeln, holten Tisch- und Kartenspiele hervor, in die auch wir mit eingebunden wurden, und gingen jede Woche mit anderen Kindesfreunden und deren Eltern bowlen. Ungeschrieben aber an der Tagesordnung war der besondere Humor, dem die Familie unterlag. Bereits am Eingang des Hauses warteten große, unsichtbare Buchstaben auf die Besucher, die diesen Humor ankündigten.

Wir blieben mehr als eine Woche bei Lilia und Alfredo, die immer offen für alles Neue und völlig entspannt waren. Die Familie zählt wohl eher unter die Sparte alternativ, was man bei deren ernsthaften Berufen auf Anhieb gar nicht vermuten würde. In jeglicher Lage wurde uns vollstes Verständnis zuteil, ob hinsichtlich unserer Kamera, auf die wir noch einige Tage warten mussten oder meines Rückens, der mal wieder eine Behandlung nötig hatte.

Alfredo machte sich um meinen Rücken Gedanken und schlug vor, einmal bei einem ihm vom Hören-Sagen bekannten Physiotherapeuten vorbeizuschauen. Dazu wurde ich an die Arztpraxis seines Bruders weitergeleitet, dessen Assistentin mir einen Lageplan vorbereitet hatte, mit dem ich den Physiotherapisten leicht ausfindig machen konnte. Dieser Mann war sehr begehrt, was sein volles Wartezimmer rechtfertigte. Und das nicht nur wegen der recht preisgünstigen Behandlung, die er anbot. Als ich an der Reihe war, prüfte er meinen Rücken und stellte fest, dass einige meiner Muskeln in der falschen Position wären. Daraufhin rückte, schob und drückte er 20 Minuten an mir herum, flüsterte einige Beschwörungen daher und meinte dann, “Das ist alles; sie sind geheilt.” Wie bitte? Nach 1,5 Jahren problematischster Rückenzustände, Schmerzen, Verkrampfungen, endloser, erfolgloser Behandlungen sollte mein Rücken in nur 20 Minuten wieder normal funktionieren? Ich war nicht nur sichtlich überrascht, sonder regelrecht geschockt. Ich konnte es nicht glauben, doch spürte ich eine kribbelnde Hoffnung heraufkriechen. Ich ging noch ein zweites Mal zu seiner Behandlung, da mein Nacken und meine Arme noch völlig verspannt waren. Nach diesen zwei Besuchen ging es mir blendend. Der Rücken tat nicht weh, ich konnte mich völlig normal bewegen, hinfallen lassen wie ich will, musste auf keine Sonderbehandlungen meiner Selbst wegen irgendwelcher Gebrechen bestehen, nichts. Ich war wohl geheilt. Mich überkam ein Gefühl, als würde ich fliegen. Leider hielt dieser Erfolg nicht lange an, weil ich dumme Kuh einen gravierenden Fehler begang. Dazu aber später.

Endlich kam auch unsere Kamera an und wir hatten bereits zuvor entschieden, dass wir uns nun zum Golf von Mexiko aufmachen würden, um ein Segelboot nach Kuba oder einer anderen karibischen Insel zu finden. Eigentlich wollten wir unseren Freunden in San Cristobal noch einmal einen Besuch abstatten, doch dieses Vorhaben schlug fehl. Wir hatten einfach zu lange auf die Kamera warten müssen und wenn wir uns jetzt nicht auf die Socken machten, um ein Segelboot zu finden, würden wir unseren Traum wohl nicht verwirklichen können. Also, auf zur Marina!

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