Menschen einer 22 Millionen-Einwohner-Stadt (October 20 – 30)

März 8, 2007  
Themen: Mexiko

Nach diesem herrlichen, aktionsgefüllten Tag in Puebla, wollten wir morgens erst gar nicht aus unseren Betten kriechen. Wir fühlten uns hier so wohl… Wir schleppten uns aber doch irgendwie unter die eiskalte Dusche, die uns die Faulheit mit einem Ruck austrieb.

Hinter uns abgeschlossen, den Schlüssel in des Nachbarns Briefkasten gesteckt, spazierten wir in Richtung Stadtende. Wir wussten so ungefähr wo es sich befand. Die Autobahn war unser Ziel und der Weg streckte sich bis dorthin. Wir hielten also noch im Gehen unseren Daumen heraus. Verschiedene Taxis hielten an, die wir aber ins Jenseits schickten. Ein Taxi war allerdings hartnäckig. Es hielt uns eher an und bot einen derart günstigen Preis, dass wir ins Grübeln kamen. Träumten wir etwa? War an dem Gebären des Taxifahrers etwas faul? Unser Zögern führte bei dem Taxifahrer zu der Bemerkung, “Wie, ist euch das etwa zu billig?” Wir verneinten schnell und stiegen nachdenklich ein. Warum wohl nahm er uns so günstig mit? Der Fahrer erklärte, dass er sich eigentlich auf dem Nachhauseweg befand. Es war unser Glück, dass er an der Autobahn vorbeikam, die wir in Richtung Mexico Stadt nehmen mussten. Perfekt. Er brachte uns letztlich sogar noch ein kleines Stück weiter, so dass wir ungehindert lostrampen konnten und die Fahrzeuge nicht direkt auf der Autobahn anhalten mussten.

Wir brauchten nur mit dem Finger zu schnipsen und schon hatten wir eine Fahrt gewonnen. Die Dame war direkt auf dem Weg nach Mexiko Stadt. Die Überraschung war gelungen. Die Reise mit der Dame war ausgesprochen anregend, sowohl an Gesprächsthemen, wie auch der Tatsache, dass sie uns etwaige Orte in Mexiko Stadt vorschlug, die alternativer oder kreativer Natur waren. Wir machten bereits Pläne, was sonst eher nicht zu unseren Vorlieben zählt.

Wir fuhren gerade nach Mexiko Stadt hinein, da hielten wir an einer Telefonzelle an. Die Adresse, die uns meine Freundin Katheryn gegeben hatte, machte für unsere Fahrerin keinen Sinn. Sie wollte uns aber gerne vor der Haustür unserer Freundin absetzen. Wir versuchten daher Katheryn zu erreichen. Vergeblich. Die Fahrerin las unsere Beschreibung wieder und wieder, bis ihr ein Licht aufging. Mit einer ungefähren Ahnung, navigierte sie uns durch das unverständlichste Strassennummernsystem, das wir bisher kennengelernt hatten. Und da waren wir. Wir standen plötzlich direkt vor Katheryns Haus. Es gab keine Klingel, so dass wir Katheryn ein weiteres Mal anriefen. Wieder ohne Erfolg. Das Warten konnte einige Zeit in Anspruch nehmen und so ließen wir uns vor dem verschlossenen Hauseingang nieder und stärkten uns mit persönlichen Leckerbissen: Bohnen aus der Dose, Brot, Gurken und Äpfel.

Nach ein bis zwei Stunden und unzähligen Anrufversuchen, tauchten Katheryn und ihre Mutter am Hauseingang auf. Katheryn war beim Zahnarzt gewesen. Im vierten Stock angekommen, ging die Wohnungstür zu einer winzigen Bleibe auf. Katheryn hatte uns vor langer Zeit gesagt, dass die Wohnung ihrer Mutter zu klein wäre, um uns zu beherbergen. Wir fanden aber keinen anderen Gastgeber und so lud uns die Mutter trotzdem zu sich nach Hause ein. Direkt von der Wohnungstür fielen wir in die Stube. Dort fand ein runder Tisch mit vier Stühlen Platz, daneben stand eine Vitrine und dahinter befand sich jeweils links und rechts an der Wand ein Sofa für zwei bis drei Personen. Der Fernseher strahlte stumm und bildlos in der Mitte. Neben der Stube befand sich eine klitzekleine Küche. Sitzen konnte man dort nicht und auch sonst war mehr als eine Person in der Küche nicht ratsam. Am linken Ende der Stube befand sich das Bad, was in seiner Größe der Küche wahrlich keine Konkurrenz machte. Hinter der Stube teilte sich die Wohnfläche in zwei kleine Zimmer, das der Mutter und des Bruders Raul. Wir würden also in der Stube schlafen. Das nahmen wir zumindest an. Wir lagen damit völlig daneben. Katheryns Mutter bestand energisch darauf, dass wir in ihrem Ehebett nächtigen und sie derweil mit Katheryn den Boden in der Stube bezieht. Uns waren die Hände gebunden und eine Ablehnung trotz ausgesprochener Proteste unsererseits völlig zwecklos. Als wir am ersten Abend entdeckten, dass unsere Gastgeber nur auf einer dünnen Decke als Untergrund schliefen, fühlten wir uns noch unwohler. Wir boten ihnen gar unsere Matrazen an, aber auch die lehnte die Mutter ab.

Auch sonst wurden wir auf eine liebenswerte Art zu ihren Schützlingen degradiert, um die sich gekümmert wurde, denn es sollte uns an nichts fehlen. Sie kochte für uns die schönsten Gerichte, kaufte den ganzen Gemüseladen für uns leer, fragte uns stets nach unseren Essenswünschen und machte sich Sorgen, ob wir auch wirklich satt wurden. Wir wurden mit Delikatessen verwöhnt und rund um die Uhr von Katheryns Familie und Besuchern unterhalten. Nach einigen Tagen ermüdeten wir ein wenig der Fürsorge, konnten aber nicht umhin, Katheryns Mutter für ihren Einsatz zu lieben.

Katheryns Bruder Raul war eine interessante Persönlichkeit. Die Ruhe in Person liebte er es, mit den Nachbarskinder zu spielen. Seine Geduld war erstaunlich. In tiefergehenden Gesprächen erfuhr ich von ihm viel über den Buddhismus, in den ich mich ja bereits hineingelesen hatte. Raul war seit zwei Jahren Buddhist und praktizierte nebenbei auch eine islamische Religion. Das beeindruckte mich sehr.

Am Abend unserer Ankunft waren wir zum Sushi-Essen bei Freunden eingeladen. Die Gastgeberin war eine Malerin, die reichlich abstrakte Kunstwerke zustande brachte. Sie war im Übrigen die Meistern des Sushi an diesem Abend. Sie zauberte gar veganes Sushi für uns her. Ihr Freund Paco war in der Filmbranche tätig und präsentierte in den kommenden Wochen seinen neuen Film in Mexiko und Europa. Er lud uns auch gleich zur Uraufführung ein, an der wir später allerdings nicht teilnehmen konnten. Rigel (setze hier eine Fußnote mit Link) war ein weiterer Gast. Auch sie war leidenschaftliche Malerin. Ihre bevorzugten Objekte waren Frauen. Erotische Art war ihr ausschließliches Thema. Ihre Arbeiten waren so fein gezeichnet, dass sie auf den ersten Blick wie Fotografien aussahen. Rigel befand sich gerade im Dauerstress, denn für die kurz bevorstehende Eröffnung ihrer ersten, eigenen Galerie musste sie unerwartet noch eine handvoll weiterer Gemälde anfertigen. Ihr verblieb noch ein knapper Monat, um die Gemälde zu liefern. Ihr Ehemann tauchte im Anzug mit Krawatte auf. Wie passte das denn zusammen? In der Vergangenheit war er ein Hippie mit langen Haaren gewesen, der mit Vorliebe Marihuana rauchte. Jetzt war er zum Bankangestellten mutiert. Lustig, welche Wege das Leben oft geht.

An einem der folgenden Tage trafen wir uns mit einer anderen Truppe von Katheryns Freunden, die sich bereits seit der Schulzeit kannten. Wir trafen uns im Coyoacan Viertel, das berühmt für seine vielen Straßencafes, Restaurants und das Museum von Frida Kahlo (eine berühmte mexikanische Künstlerin) war. Dort gab es ganzwöchig einen Kunstmarkt, der aber nur an den Wochenenden richtig zum Leben erwachte. Unzählige Hütten reihten sich aneinander, die Kunst, Gemälde, Schmuck, Kleidung und Esswaren anboten. Es war ein Genuss für die Sinne, durch diese improvisierten Läden zu streifen. Wir gingen in eines der Lieblingscafes von Katheryn. Dort probierten wir von einem eigenartigen Bier. Das Bierglas war am Trinkrand mit Limone und Salz prepariert. Es gab auch noch eine Chilli-Variante davon. So weit gingen wir bei unserer Wahl aber nicht. Später am Abend wollten wir etwas Essen gehen. Das endete in einer ewigen Suche. Jemand hatte eine Idee, wir fuhren dorthin, das Restaurant war voll oder bot keine veganischen Speisen an. Wir parkten hier, und dort, und immer so fort. Es war mittlerweile schon reichlich spät, als eine Freundin auf die Idee kam, ins “100% Natural” (100% Natürlich) zu gehen. Dort würden auch vegetarische Speisen serviert. Wir wurden nicht enttäuscht. Die Karte hielt eine zauberhafte Welt von vegan und vegetarisch abgewandelten Speisen bereit. Ich entschie
d mich für die traditionellen Tacos, die in diesem Restaurant mit einem Fleischersatz (Seitan oder Tofu, weiss ich nicht genau) zubereitet wurden. Augustas entschied sich für eine Suppe. Wir entschieden unser Essen miteinander zu teilen. Halb Suppe, halb Tacos. Als die Tacos serviert wurden und ich zum ersten Mal hineinbiß, wollte ich gar nicht mehr mit Augustas teilen. Die waren ein Traum. Die Tacos stimulierten derart meine Geschmacknerven, dass sie meinen Mund fast zum Schlingen verführten. Ich bot dem Einhalt und genoss, genoss und genoss diese Köstlichkeit bis zum letzten Krümel. Augustas bekam natürlich auch seine Portion ab, denn letztlich waren drei Tacos eh viel zu viel für meinen Magen. Dieses Gericht werde ich wohl in meinem Leben nicht wieder vergessen. Das “Dessert” dieses Restaurantbesuches war, dass Katheryn darauf bestand, die Bezahlung für uns zu übernehmen. Wir schwebten auf Wolke Sieben.

Es war an der Zeit, den alternativen Markt “El Chopo” zu besuchen. Den hatte uns ja die Dame, die uns bis Mexiko Stadt gebracht hatte, wärmstens empfohlen. Kaum stiegen wir in der Buenavista Station aus der U-Bahn aus, sahen wir Unmengen von schwarz gekleideten Menschen herumschwirren. Auf der Treppe, die zur Straße hinausführte, verkauften junge Leute in dunklen Kostümen “echte” schwarze Rosen. Ich fühlte mich plötzlich in eine andere Welt versetzt. Überall stießen wir auf kreative Bekleidung und geschmackvoll-verrückt gefärbte und gestylte Haarprachten. Vor allem die Männer heimsten meine Begeisterung ein, denn die tauchten in Fräcken, prachtvollen barocken Gewändern und originellen Strümpfen auf, die bis zu ihren Oberschenkeln reichten. Am Markt angekommen, fanden wir zahlreiche Läden vor, die Klamotten jeder Art verkauften. Vor allem für die schwarze Musikszene, Rock, Punk, aber auch für Hipp-Hopp, Armeeliebhaber und Discogirls gab es eine große Auswahl. Augustas kaufte sich vor Ort auch endlich eine neue Hose, die zwar einige Produktionsfehler aufwies, aber allemal für unsere Zwecke gut war. Verschiedene Läden, die von außen winzig erschienen, warteten mit der Größe von vierstöckigen Gebäuden auf. Auf jeder Etage gab es etwas anderes zu entdecken und auch die lautstarke Musik variierte je nach Verkaufsgegenstand. Ein wahrer Fundus an Schätzen war das. Die Strasse mit Buden wie auf der Kleinmesse schien endlos. Überall gab es Musik zu kaufen, die weit entfernt von Pop war. Die Luft dröhnte regelrecht von der aus allen Lautsprechern plärrenden Musik. Weiter ging es mit Klamottenständen, Schmuckverkäufern, Liebhaberstücken für Spezialgeschmäcke und am Ende, das fehlte auf keinem Markt, auch die Eßstände. Dort gab es organisches und unter Fair-Trade gehandelte Waren wie auch frisches Obst und Gemüse und natürlich Fleisch zu kaufen. Da lag auch locker einmal ein ganzes Schwein auf dem Tisch, was mir den Appetit schnell verdarb. Wir verzichteten auf eine Mahlzeit an diesen Ständen, auch weil die Preise nicht gerade unserem Budget angepasst waren. Stattdessen gingen wir zum nächstbesten Supermarkt und deckten uns dort mit Lebensmitteln für den Nachhauseweg ein.

Alvaro, ein www.HospitalityClub.org Mitglied, lud uns eines Abends zu einem Treffen in Coyoacan ein, von dem wir uns sowieso magisch angezogen fühlten. Wir kamen extra ein bischen früher zu dem Treffen, da ich mir unbedingt noch eine Hose kaufen wollte. An einem Modell blieben meine Augen kleben. Die lilane Hose hatte jeweils ein Auge auf Kniehöhe und strahlte mit Pilzen und bunten Punkten. Ich probierte sie an und sie passte perfekt. Die wollte ich haben. Wir handelten ein wenig um den Preis. Dabei stellte ich mich nicht ganz so geschickt an, einfach weil ich die Hose in Gedanken eh schon gekauft hatte. Aber das war letztendlich egal. Ich hatte meine Hose gefunden und damit auch gleich eine Idee für meine Zukunft gekauft: Klamotten selber bemalen. Für mich stand fest, dass würde ich von da an selber machen.

Wir mussten lange auf Alvaro warten. Wir nahmen uns währenddessen Zeit einen Bücherladen, der sich an einer Ecke des Marktplatzes befand, genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Laden hatte so viele tolle Bücher, man hätte mich gut und gerne dort für einige Tage abstellen können. Alvaro kam ungefähr eine Stunde zu spät. Wir waren geduldig, dass wusste er scheinbar. Außerdem kannten wir ja die Situation des Straßenverkehrs um diese Zeit und wussten, dass er sicher irgendwo stecken geblieben war. Mit Alvaro gingen wir ein wenig durch Coyoacan. Er führte uns herum, erklärte uns viele historische Sachen und endete bei einem Museum, dass zeitgemäß die verschiedensten Altare für den kommenden “Dia de Muerte” (Todestag) präsentierte. Diese Altare waren sich ähnlich, enthielten aber je nach Kultur andere Opfergaben und Blumen. Lag auf dem einen ein einfacher Brotlaib, wurde auf dem des Nachbarn Kuchen geopfert. Die Altare waren großartig und wirkten, da es gerade Abend wurde, ausgesprochen anheimelnd. Danach zogen wir weiter durch die Straßen. Die Atmosphäre, die die Cafes und Restaurants bei Dunkelheit ausstrahlten, versetzte mich in die Zeit, als ich es in Berlin genoss, meine Abende mit Freunden an ähnlichen Orten zu verbringen. Wir hielten an einem wohlbekannten Kaffeehaus an, wo die Menschen in langen Schlangen anstanden. Obwohl es schien, als müssten die Leute den nächsten Morgen abwarten, um an ihren Kaffee zu kommen, schoben sie sich im Eilzugtempo voran. Die Bedienung funktionierte wie bei einer Maschine, doch war hier die Spezie Mensch selbst am Werk. Es handelte sich um alles andere als einen Kaffeeautomaten. Die Gerüche, die aus dem Kaffeehaus auf die Straße drangen, ließen selbst mich schweben, obwohl ich keinen Kaffee trinke. Während Alvaro in der Schlange der Kaffeesüchtigen verschwand, suchten wir uns einen Imbiss, der uns heißen Tee servierte. Dazu gab es eine kleine Knabberei und als Alvaro zurückkehrte, spazierten wir allesamt zum Marktplatz. Dort setzten wir uns nebeneinander und fingen an, kulturelle Erfahrungen auszutauschen. Alvaro war besonders an unseren Afrikareisen interessiert. Im Gegenzug lauschten wir dann Alvaros Reiseberichten. Eine Geschichte fesselte uns besonders. Als er im mittleren Osten die Grenze überqueren wollte, verwickelte sich Alvaro selbst in eine ungangenehme Situation. Ohne vorher darüber nachzudenken, dass in dem nächsten Land, das er bereisen wollte, Alkohol strikt verboten war, brachte er ein paar alkoholische Souvenire mit, die er gern seinen Freunden in Mexiko geschenkt hätte. Doch dazu kam es nicht. Er legte sich wirklich ins Zeug, um die Souvenire unversehrt auch in dieses Land bringen zu dürfen. Das endete damit, dass einer der Soldaten die Flaschen wegtrug und später vor Alvaros Augen auf den Boden schmetterte. Nun durfte Alvaro einreisen. Ohne Souvenire. Geschockt und sauer über so wenig Mitgefühl.

Lilli und Paco, zwei www.Servas.org Mitglieder, führten uns eines nachmittags zur Universitätsstadt von Mexiko Stadt, der UNAM. Zuvor lernten wir noch Pacos neues Haus kennen, dass er erst kürzlich bezogen hatte. Da Paco nicht nur Schriftsteller sondern auch Künstler war, hatte er das Innenleben des Hauses auf abenteuerliche Weise verändert. Mir hätte dieser Ort gut für einen längeren Aufenthalt gefallen. Auf dem Weg zur Uni-Stadt erfuhren wir, dass Lilli Filme vom Spanischen ins Englische übersetzte. Ab und zu übernahm sie auch Sprechrollen, was ihr allerdings nicht so gut gefiel.

Die UNAM ist ein überdimensionaler Universitätskomplex, der den Namen “Stadt” wirklich verdient. Das Gelände ist so groß, dass es universitätseigene Busse gibt, die den Studenten von einer Fakultät zur anderen helfen. Wie auch in Mexiko Stadt ist der Verkehr auf den Universitätsstrassen oft durch Staus geprägt. Für Studenten ist es ergo ratsam, sich lieber ein Fahrrad anzuschaffen, mit dem sie unabhängig vom Stau rechtzeitig zu ihren Vorlesungen kommen. Bereits beim Betreten des Uni-Geländes lachte uns die große, alte Bibliothek an. Die ist von außen mit malerischen Kunstwerken verziert. Kaum hatten wir de
n Campus betreten, fühlte ich mich in meine Studienzeit zurückversetzt. Weit ausgedehnte Rasenflächen, parkähnliche Anlagen, Sitzbänke und gar Pavillions hinterliessen einen Eindruck für freischaffende Kreativität. Positiver Raum, um sich außerhalb der Seminare zu entfalten. Paco führte uns zu Fuß durch ein Drittel der Universitätsstadt UNAM. Er zeigte uns seine alte Fakultät sowie die Gebäude der Fachrichtungen Architektur, Medizin und Kunst. Wir besuchten die neue Bibliothek, die sich durch ihren modernen Bau stark von der künstlerisch verzierten am Eingang zur UNAM abhob. Nicht weit von der UNAM befindet sich ein biologisches Schutzgebiet, in dem Pflanzen verschiedener und seltener Art aufzutreffen sind. Die Biosphäre wird fast ausschließlich sich selbst überlassen, um einen möglichst natürlichen Urzustand zu erreichen. Inmitten dieses Parks gibt es einen gigantischen Kreis, in dem felsenartige Gesteine in einem Loch aufgestapelt scheinen. Ringsherum ist der Kreis durch Betonwände geschützt, die wie gleichwinkelige Dreiecke aussahen. Zwischen den einzelnen Betonwänden findet sich soviel Platz, dass man als schlanker Mensch hindurchpasst. Diese Konstruktion stammte sichtlich von einem anderen Stern. Dieser Platz wurde oft als Konzert”halle” und für Festveranstaltungen genutzt. Dazu standen die Musikgruppen mitten im Gestein, während die Zuschauer auf den Felsblöcken inmitten des Kreise, am Rand des Kreises und auf der Spitze der Betonblöcke verweilten. Ein magischer Ort für solche Ereignisse.

Nachdem wir uns die Füße in UNAM wund gelaufen hatten, machten wir einen Ausflug nach Tlalpan. Das ist eine kleine, gemütliche Vorstadt von Mexiko Stadt, in der das Leben noch nicht durch Autoabgase und menschenüberfüllte Straßen geprägt ist. Wir hatten nur noch wenig Zeit, so dass wir nach einem kurzen Spaziergang durch Tlalpan in einem Restaurant einkehrten. Wir fanden alle etwas zu essen, obwohl sich das anfangs schwierig gestaltete. Fast alle Gerichte schienen entweder mit Fleisch oder Milch versetzt zu sein. Es war halt ein traditionell mexikanisches Lokal.

Micha, ein Freund aus Deutschland, hatte uns vor Abreise nach Mexiko (im Januar 2006) eine Musik-CD mit polnischen Liedern in die Hand gedrückt. Er hatte nämlich vor einiger Zeit ein paar Tramper aufgelesen. Diese stellten sich als mexikanische Tänzer heraus, die auf dem Weg zu einem Auftritt waren. Maria liebte die Musik, die er während der Fahrt im Auto spielen ließ und versprach ihr, eine Kopie dieser CD nach Mexiko zu schicken. Das hatte er vor, doch dann erfuhr er von unserer Reise durch die Welt, die wir in Mexiko beginnen würden. Er gab uns also die CD mit der Bitte, Maria persönlich aufzusuchen und ihr die CD zu überreichen. Da wir auf einigen Umwegen Mexiko Stadt erreichten, konnten wir die CD erst acht Monate später übergeben. Dazu wuselten wir durch Mexikos Straßen, denn Maria lebte in Guajimalpa. Nach einiger Zeit machten wir die Adresse ausfindig, doch am Haus angekommen, fanden wir nur ihre Großmutter vor. Maria lebe nicht dort, hätte nur ihren Briefkasten in ihrem Haus. Wir erklärten der Großmutter die Überraschung, die wir für Maria hatten und so gewährte sie uns Eintritt ins Haus. Sie servierte uns eine Zitronenlimonade, während wir versuchten, Maria per Telefon zu erreichen. Die Großmutter stellte dazu ihren Festnetzanschluss zur Verfügung. Nach einer kurzen Erklärung, dass wir etwas für sie hätten, ohne aber zu erwähnen von wem und was, verabredeten wir uns für eine Stunde später im Zentralpark direkt an der Kirche.

Maria verspätete sich ein wenig. Wir vertrieben uns also die Zeit mit der Beobachtung der Festlichkeiten, die in und um die Kirche zu Gange waren. Überall hingen Ballons, die Kinder rannten mit Girlanden behangen herum, die den Dampfkesseln entflohenen Gerüche verrieten ihre Köstlichkeiten und die Stimme des Pfarrers, der für seine Gemeinde an diesem Tag sprach, drang selbst bis auf den Hof der Kirche. In vielen Ecken tümmelten sich Grüppchen, die sich entweder gerade über ein verzehrwilliges Büffet hermachten oder aber bereits mit vollgestopften Bäuchen ein Nachmittagsnickerchen hielten. Endlich kam Maria und wir konnten ihr eröffnen, dass Micha ihr die CD durch uns sendet. Sie bekam vor Erstaunen ihren Mund nicht wieder zu. Sie war so glücklich, dass sie vor Freude hüpfte. Die Überraschung war wirklich gelungen und endlich waren Maria und die CD vereint. Auch diese Form der Post funktioniert also. Zudem blieb uns Maria nicht nur von diesem Tag in Erinnerung, denn wir sind seit unserem Aufeinandertreffen in stetigem Kontakt.

Maria war auf dem Weg zu ihrem Tanztraining, wo sie als Tanzlehrerin fungiert. Sie lud uns also ein, ihrer Tanzgruppe beim Üben zuzusehen. Sie trainierten für einen Auftritt, der im September stattfinden würde. Alle kamen zu spät außer Maria. Der Lohn des Wartens war die Präsentation von traditionellen Tanzschritten und Formationen, denen mittels Steppschuhen akkustisch Ausdruck verliehen wurden. In dem großen leeren Gymnastikraum mit Parkettfußboden und fünf Paar Schuhen, die von Musik begleitet wurden, bebte der ganze Saal. Dazu die graziösen Bewegungen von Maria und ich war völlig im Zauber der Bewegungen gefangen. Meine Beine tanzten unaufhörlich im Sitzen mit. Ich liebe Tanz, da ich es fast mein ganzes Leben getan habe. Wenn ich also in neue Tanztechniken eingeführt werde, selbst wenn ich nur zusehe, versuche ich automatisch die Schritte nachzuahmen. Ob ich will oder nicht, mein Unterbewußtsein schaltet in diesem Moment auf Aufnahme und Umsetzung. Tuck-tuck, klapp-klapp.

Katheryns Mutter schlief nun schon seit vier Tagen auf dem Wohnzimmerfußboden und da wir endlich einen anderen Gastgeber gefunden hatten, wechselten wir zu einem anderen Stadtbezirk, in die Wohnung von Esthela und Rodrigo. Wir hatten die Beiden über www.Servas.org kennengelernt. Die beiden hatten einen neun Monate alten Sohn namens Mateo. Ein wahrer Sonnenschein. Er lachte den ganzen Tag, jauchzte vor sich hin, vergnügte sich mit Vorliebe mit dem Wollbauschstruppelhund (ein Chiuahua) namens Mao und hüpfte so oft er durfte in seinem Springsitz herum. Einmal hatte sich Mao ein Spielzeug von Mateo gegriffen und kaute darauf herum. Das brachte Mateo dermaßen zum Lachen, dass wir am Ende alle Vier mit einstimmten. Uns standen die Tränen in den Augen und wir hielten uns die Bäuche vor Lachen. So ein mitreißendes Gelächter habe ich in meinem Leben zuvor noch nie von einem 9 Monate altem Baby vernommen. Mateo war wohl der geborene Clown. Unsere Gastgeber stellten uns unbegrenzt ihre Küche zur Verfügung und erklärten, dass wir alles essen könnten, was wir auffinden. Für diese Geste versuchten wir uns ein paar mal zu revangieren und kochten Abendessen. Das war gar nicht so einfach, da Esthela bestimmte Lebensmittel vorübergehend nicht essen durfte, da sie abstillen wollte. Aber es fand sich immer etwas, selbstverständlich.

Die Wohnung von Esthela und Rodrigo war genau optimal für drei Personen mit Besuch. Wir schliefen in der Stube auf dem ausgeklappten Sofa. Das war anfangs etwas schwierig, da des nachts vom Treppenhaus das Licht immer direkt auf unsere Gesichter fiel. Man konnte es nicht ausschalten. Wir zogen daher die Decken einfach über den Kopf, um ungestört träumen zu können. Frühzeitig am Morgen, so gegen 6 Uhr, machten sich Esthela und Rodrigo leise durch die Wohnung schleichend fertig und gingen auf Arbeit. Mateo und der Hund wurden zu Esthelas Schwester gebracht, während Esthela gerade wieder anfing zu arbeiten. Sie war für mexikanische Verhältnisse lange mit dem Baby zu Hause gewesen. Ganze 8 Monate. In der Regel müssen die Mütter nach 2 Monaten schon wieder arbeiten gehen, denn nur für diese Zeit erhalten sie einen Zuschuß vom Staat. Gut, dass Rodrigo die Lebenshaltungskosten bis dahin abdecken konnte, doch nun war es an der Zeit, dass Esthela ihr Monatsgehalt beisteuerte. Ihre Arbeit lag im Umweltbereich. Sie arbeitete gerade an einem Forschungsprojekt über die historischen Zusammenhänge von Menschen
ansiedlungen in einem bestimmten Gebiet und den vorhandenen Wasserquellen. An einigen Orten schien es sich abzuzeichnen, dass die Wasservorräte dem Ende zugingen. Deswegen war es an der Zeit herauszufinden, wie sich der Wassermangel auf die dort ansässigen Menschen auswirken wird, um rechtzeitig eingreifen zu können. Rodrigo arbeitete in einem geografischen Institut und gab einmal pro Woche Seminare an der Universität. Da er kein Auto hatte bzw. das, was die Beiden besaßen, Esthela brauchte, musste Rodrigo jeden Morgen einen einstündigen Arbeitsweg antreten. Wenn er zur Universität musste, um seine Seminare zu halten, tat er dies am frühen Morgen und musste gegen Mittag durch die ganze Stadt hinweg zu seiner Arbeitsstelle gondeln. Das dauerte ganze zwei Stunden. Bei der dafür notwendigen Zeit versteht man erst einmal, wie groß Mexiko Stadt wirklich ist.

Den ersten wie auch viele folgende Abende verbrachten wir fünf gemeinsam. Wir spielten mit Mateo, stichelten Mao und lauschten den vielen Tipps und Anregungen, die uns Esthela und Rodrigo für unsere Reise durch Mexiko gaben. Die Beiden waren auch viel unterwegs und kannten sich historisch und kulturell sehr gut aus. Sie schlugen uns Feste vor, die wir nicht verpassen sollten, und zeigten uns Fotos von wahren Naturwundern, die selten zu finden sind. Die Ausführungen über ihre Reisen inspirierten uns sehr und wir hofften, irgendwie auch an diesen ungewöhnlichen Orten zu wandern und an den farbenfrohen Festen teilzunehmen.

Wochenlang hatten wir an einem Treffen mit Saulius, einem Litauer, gearbeitet, der für einen dreiwöchigen Urlaub nach Mexiko kommen wollte. Augustas hatte ihm in einem Forum über das Internet ausfindig gemacht und Saulius hatte sich bereit erklärt, uns einige Dinge aus Litauen mitzubringen und bei seiner Rückreise unsere Fotos mitzunehmen. Endlich war es so weit. Wir trafen uns auf dem riesigen Flughafengelände in Mexiko Stadt. Dort trafen wir auf vier Litauer, die ihre neugierigen Nasen überall hinschweifen ließen. Wir hatten nur wenig Zeit miteinander, da die Vier bereits von ihren Gastgebern erwartet wurden.

Wir hätten es bei unserer Ankunft in Mexiko Stadt nicht für möglich gehalten, dass wir so viel Zeit an diesem Ort verbringen werden. Selbst nach neun Tagen hatten wir noch nicht genug davon. Wir wechselten also erneut unseren Gastgeber und landeten in einem ruhigen Viertel von Mexiko Stadt, einer Art Künstlerviertel, bei Oscar dem Maler. Oscar war der geborene Chaot, präsentierte sich nach außen hin aber als völliges Gegenteil. Seriös, im Anzug gekleidet, baute sich der zwei Meter große Hüne vor einem auf. Im Herzen alternativ und mit Liebe fürs Detail, wahrte er in der Öffentlichkeit den Ruf eines Geschäftsmannes. Geistige Abwesenheit führte bei Oscar oft zur Verdrängung wichtiger Termine, an die er sich immer nur kurzfristig wieder erinnerte. Dann hetzte er besorgt durch die Wohnung und stürmte zu seiner Verabredung, zu der er bereits reichlich spät kam. Die Kombination war so skurril, das sie schon wieder kreativ wirkte. Oscar war halt ein wahrer Künstler. Organisation war eine seiner Schwächen. Genauso war es mit dem Essen. Oscar liebte den Genuss von Speisen, war aber zu unbeholfen, ein ganzes Menü zusammenzukochen. Daher gab es für ihn meist nur Tortillas in der Pfanne geröstet und mit Käse in der Mitte überbacken. Die Küche sah auch entsprechend unbenutzt und reichlich verstaubt aus. Dazu meinte Oscar nur, “Das ist halt ein altes Haus. Da sammelt sich der Staub überall.” Mit einem Schmunzeln machten wir uns also ans Werk, seiner Küche zu einem neuen Glanz zu verhelfen. Dazu bekochten wir ihn fast rund um die Uhr, damit er uns nicht vom Fleische fiel. Wir hatten viel Spass dabei, denn er konnte nicht glauben, dass man auch vom fleischlosen Essen satt würde. Wir blieben eine ganze Woche bei ihm. Oscar hatte nichts dagegen, bat uns nur, beim “wöchentlichen” Saubermachen mit anzupacken. Das erforderte einigen Einsatz, besonders im Bad, dass sicher seit einem halben Jahr keine Reinigung mehr zu spüren bekommen hatte. Oscar war bei der Reinemachaktion nicht da und als er dann kurz vor Beendigung zurückkam, nahm er uns mit Entsetzen den Schwamm aus der Hand und meinte, “Doch nicht so viel! Das ist genug des Reinigens!” Scheinbar war es ihm jetzt zu sauber. Uns fehlten dazu die Worte, aber wir atmeten sichtlich auf, unser Soll abgearbeitet zu haben.

Die eine Woche bei Oscar war manchmal etwas anstrengend. Das Problem war, dass wir keinen Schlüssel hatten. Immer genau dann, wenn Oscar nicht da war, passierte es, dass wir das Haus nicht verlassen konnten, da unten das Gittertor verschlossen war. Wir klingelten gar bei den Nachbar, damit sie uns herausließen. Beim Nachhausekommen war es nicht anders. Selbst wenn wir mit Oscar Zeiten der Rückkehr vereinbarten, passierte es häufiger, dass wir stundenlang vor dem Haus verharren mussten. Gut, dass es in der Nähe ein preiswertes Internet gab, sonst hätten wir mit unserer Haustorbelagerung sicher die Nachbarn verunsichert.

Oscar war vielbeschäftigt und verbrachte die Morgende mit Jogging und Malen. Seine Spezialität waren Portraits von berühmten Persönlichkeiten. Da er als Künstler von der Hand in den Mund lebte, ging er oft in Cafes, um dort die Gäste zu zeichnen. Wenn er die Zeichnungen übergab, überließ er es den Gästen, ob sie ihm dafür entschädigen wollten oder nicht. Oft sicherte er sich damit das Essen für den Tag. Nur die Bezahlung der Miete bereitete ihm oft Kopfzerbrechen, denn damit war er immer einige Monate hinterher, wenn er unter einer schlechten Auftragslage litt. Oft versuchte er deswegen an Wettbewerben teilzunehmen, denn das Siegergeld sicherte ihm den Fortbestand seiner eigenen vier Wände. Als wir bei ihm waren, wartete er gerade geduldig auf den Ausgang eines Wettbewerbes, in dem eine religiöse Figur, verpackt in eine bildliche Oration, für eine Kathedrale gemalt werden sollte. Er hatte zwei Bilder eingereicht und hoffte, in wenigen Wochen mit dem Siegergeld seine Mietschulden begleichen zu können.

Auf dem Dach des mehrstöckigen Hauses hatte sich Oscar sein eigenes Studio eingerichtet. Wenn man sich dort versuchte Eintritt zu verschaffen, musste man erst einmal die zahlreichen Gemälde aus dem Weg räumen. Wunderschön war die Tatsache, dass er bei gutem Wetter im Freien arbeiten konnte, mit einem Blick über die Dächer seines Stadtbezirks. Eine inspirierende Atmosphäre. Nachmittags nahm er dann meistens Termine wahr und traf sich auch einige Male mit dem russischen Botschafter in Mexiko Stadt. Oscar hatte den russischen Botschafter samt seiner jungen Familie gemalt und musste den offiziellen Transport des Bildes nach Russland organisieren. Der Botschafter würde nämlich in Kürze seinen Posten in Mexiko Stadt für einen neuen Botschafter freimachen. Und so kam es, dass eines nachmittags der Botschafter direkt zu Oscar nach Hause kam. Augustas lebte auf, als er die Möglichkeit bekam, endlich einmal wieder Russisch zu sprechen. Er wechselte ein paar Worte mit dem Botschafter und hoffte, dass sie sich noch einmal wiedersehen würden. Dazu kam es leider nicht.

Neben seinen ganzen Aktivitäten fühlte sich Oscar oft depressiv, da er vor drei Jahren seine geliebte Ex-Freundin verloren hatte. Sie hatte sich das Leben genommen und er versuchte ihre Gründe dafür zu akzeptieren, was ihm sichtlich schwer fiel. Er teilte mit uns diese Tragik. Um nicht die ganze Zeit über die Vergangenheit zu sinnieren, stiftete uns Oscar abends oft zum Domino spielen an. Er und Augustas verstrickten sich dabei richtiggehend in ihre Strategien, schließlich wollte ja niemand verlieren und mit Pfiff den Gewinn erobern. Mir war das alles zu aufwendig. Ich wollte einfach nur Spass an der ganzen Sache haben und pfiff auf die Strategien. Witzig war an diesen Abenden, dass Oscar nie aufhören wollte zu spielen. Er schlief teils über der Vorbereitung seiner Strategien ein und hockte mit geschlossenen Augen vor uns. Wir mussten ihn etliche Male wieder aufwecken, damit er das Spiel zu Ende brachte. Und da
nn kam trotzdem immer die Frage, “Spielen wir noch eins?” Oscar war einzigartig.

Bradwell, ein 41jähriger Amerikaner, der bereits seit sechs Monaten in Mexiko Stadt als Englischlehrer tätig war, kontaktierte uns über www.CouchSurfing.com, da er uns in der Nähe erspäht hatte. Wir trafen uns im Stadtzentrum in einem Hostelcafe, wo wir ganze drei Stunden mit Reden verbrachten. Bradwell hatte in den USA alles aufgegeben, sein altes Dasein hinter sich gelassen und war bestrebt, sein Leben mit den geringsten Mitteln zu gestalten. Brad hatte sich für das Leben eines Vagabunden entschieden und bezeichnete sich gern als “Hardcore Traveller” (harter Kern der Reisenden) Er war ein richtiger Pfennigfuchser, tat dies aber, um zu beweisen, wie wenig ein Mensch wirklich zum Überleben benötigte. Er praktizierte also tagtäglich eine Art “Survival”, auf deutsch auch Überlebenstraining. Anfangs in Mexiko Stadt kam er bei einem Mitglied von einem der beiden Hospitality Vereine unter. Da er mittlerweile Arbeit gefunden hatte, zögerte er seinen Aufenthalt immer weiter hinaus, bis der Gastgeber ihn einfach nicht mehr kostenlos beherbergen konnte. Er verbrachte daraufhin nächtelang mit Obdachlosen auf Parkbänken. Mit viel Geschick schaffte er es seinen Chef zu überreden, ihm im Büro auf dem Fußboden schlafen zu lassen, was er zum Zeitpunkt unseres Treffens bereits seit Monaten tat. Und das ohne Matraze, Kopfkissen oder Decke. Essen gab es bei Bradwell dann, wenn er kostenlos an Speisen herankam. Bot sich dafür keine Möglichkeit, lebte er von bis zu fünf Brötchen und ein bis zwei Äpfeln täglich. Nachdem wir das erfuhren, verstanden wir seinen halbverhungerten Zustand. Ob er denn dabei nicht vom Fleische falle und unter Energietiefpunkten litt, wollten wir wissen. Bradwell brauchte auf diese Weise mehr Schlaf, aber ansonsten kam er gut damit klar. Da er sich so sparsam durch die Welt bewegte und nur vorübergehend ein wenig Geld verdiente, damit er seinen Flug nach Afrika finanzieren konnte, interessierte ihn brennend, wie das mit dem Trampen funktionierte. Wir gaben ihm viele Tipps, wie er sich erfolgreich fortbewegen konnte und einige Zeit später probierte er es tatsächlich aus. Mittlerweile reist er auf diese Weise durch Afrika. Wir fanden es beachtlich, welchen Strapazen sich Bradwell hingab, um von so wenig Geld wie möglich zu leben. Auch wir hatten ein wirklich schmales Budget, aber so weit mussten und wollten wir nun wirklich nicht gehen. Vor allem fanden wir es eigenartig sich absichtlich in eine Hungersituation zu begeben und darauf angewiesen zu sein, dass Fremde einen durchfüttern. Denn wenn Bradwell etwas angeboten bekam, stürzte er es gierig hinunter. Er hatte wohl bei dieser Lebensweise ständig Hunger.

Für den späten Abend lud uns Bradwell zum “Casa de los Amigos” (Haus der Freunde) für eine Gesprächsrunde ein. Das war ein Treffpunkt, der am kommenden Wochenende sein 50jähriges Bestehen feierte. Das “Casa de los Amigos” war damals von Quakers (hier vielleicht ein Link bzw. eine Fußnote mit Erklärung wer Quakers sind) gegründet wurden. Das Haus sollte ein Anlaufpunkt für die gegenseitige, menschliche Hilfe sein und für internationale Begegnungen zur Verfügung stehen. Das “Casa” hatte viele Anhänger, vor allem die, die in den vergangenen fünfzig Jahren Erfahrungen mit der Einrichtung gemacht hatten. Um dorthin zu gelangen mussten wir quer durch das prächtige, historische Zentrum von Mexiko Stadt laufen. Wir liefen selbstverständlich, einmal, weil wir dies selbst bevorzugten, zum anderen, weil Bradwell eh nicht mit der U-Bahn fahren würde, um Geld zu sparen. In den 45 Minuten Fußweg liefen wir durch leichten Regen, entlang von prächtigen Altbauten, die schon beim puren Anblick ihre Geschichte preisgaben. Wir durchquerten dabei auch einen langgestreckten Park, der viele Statuen offenbarte und einem das Gefühl gab, nicht mehr in der Stadt zu sein. Dort hatte sich auch eine Gruppe von Menschen zum Hungerstreik vereint, der bereits drei Tage dauerte. Den Zweck dieser Aktion weiss ich nicht mehr.

Im Casa angekommen, fanden sich fast alle Stühle im Gesprächszirkel besetzt. Die Sitzung stand kurz vor dem Beginn, so dass wir uns noch schnell einen Tee nahmen und von den bereitgestellten Keksen naschten. Bradwell hatte sich schon die ganze Woche auf die Kekse gefreut, dass konnten wir ihm richtig ansehen. Die Anzahl der Teilnehmer überstieg den wöchentlichen Durchschnitt um mehr als das Doppelte, wenn nicht gar Dreifache. Da die Fünfzig-Jahr-Feier bevorstand, waren viele ehemalige Casa-Nutzer aus verschiedenen Ecken der Welt, vor allem aus den USA, eingeflogen. Einige Anwesende lebten momentan im Casa, andere waren aktiv in die Organisation des Casa eingebunden und neben den Besuchern tauchten auch viele Mexikaner und in Mexiko Stadt lebende Ausländer auf. Dabei kam eine tolle internationale Mischung heraus. Zu Beginn des Gesprächszirkels wurden ein paar feierliche Worte geäußert und dann wurden die Teilnehmer in sechs kleine Gruppen aufgeteilt. Das Thema war “Meine Erfahrungen mit dem Casa”. Dazu konnte ich schlecht etwas sagen, als ich aber an der Reihe war, erzählte ich halt stattdessen von unserer Reise. Das erregte viel Interesse und das nicht nur in meiner, sondern auch in Augustas Gruppe. Es war schön, den vielen Erlebnissen der Teilnehmer mit dem Casa zu lauschen. Am Ende wurde einige Geschichten in der gesamten Teilnehmerrunde noch einmal in Kurzform vorgetragen.

Dann folgte die Möglichkeit, mit einigen Anwesenden tiefergehende Gespräche zu führen. Eine Dame hatte von meinem Traum gehört, gerne von Alaska nach Russland zu reisen. Sie bestätigte mir, dass es möglich wäre, denn sie wüsste von Einheimischen in Alaska, die regelmäßig mit ihren Privatbooten nach Russland übersetzten. Viele Menschen in Alaska hatten nämlich Verwandte auf der russischen Seite. Ich jauchzte bei dieser Information regelrecht auf, denn die alte Dame war die erste Person, die mich mit brauchbaren Tipps für mein Vorhaben versorgte und aufmunterte, diesen Weg wirklich einzuschlagen. Wir tauschten unsere Adressdaten aus und hoffen, sie bei unserem Besuch in den USA wiederzusehen.

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