Eine Küchenmüllhalde kurz vor dem Todestag (October 30 – November 5)

März 9, 2007  
Themen: Mexiko

Nach drei Wochen in Mexiko Stadt fanden wir es an der Zeit ein wenig Abstand von diesem stark abgasbelasteten, wenn auch überaus interessanten Ort zu finden. Wir fuhren also ein wenig hinaus aus der Stadt und zwar nach Xochimilco. Dort hatte sich Felix, ein Servas Mitglied, angeboten uns unterzubringen. Wir brauchten zwei Stunden bis dorthin. Das Haus war einfach auszumachen, denn der Baustil war alles andere als gewöhnlich. Viele asiatische Elemente fanden in dieser Kreation ihren Platz, beim Fenster angefangen, über die Terassentüren hinweg bis zum gebogenen Dach.

Wir mussten noch einige Zeit vor der Haustür warten, denn Felix war noch nicht von der Arbeit zurück. Kaum war er angekommen, schien es uns unmöglich, dass er der Felix ist, mit dem wir kommuniziert hatten. Vor uns tauchte ein knapp sechzigjähriger Herr mit einem wohlgenährtem Vorbau auf, einen Sonnenhut auf dem Kopf, die Hosenträger über sein T-Shirt gespannt und die Aktentasche im Arm. Er brachte auch frisches Brot mit, was die zweite Hand beschäftigte. Er lief langsam, ein wenig humpelnd und bat uns bei seiner Ankunft die Gartentür zu öffnen. Das Schloss war alt und verrostet und bedurfte einiger Kunststücke beim Öffnen. Um die Wohnungstür aufzuschließen, musste man den Schlüssel in die Mitte der Tür ins Schlüsselloch stecken, um das Schloss zu bewegen. Kaum sprang die Tür auf, begegnete uns die zauberhafte Welt von Felix. Wie in einem Märchen, in dem gerade ein Sturm durch die Wohnung gefegt und die gesamten Dokumente durch die Luft gewirbelt hatte, fanden wir die erste, im arabischen Stil gehaltene Sitzgelegenheit vor. Über dem Kamin, der seit langem nicht mehr in Betrieb schien, hingen wertvolle, moderne Gemälde. Um den Kamin herum und unter dem Berg der herumliegenden Dokumente hervorlukend fanden sich Figuren aus der ganzen Welt. Aber all dies war nur der winzige Beginn eines Hauses, dass Schätze aus 1001er Nacht beherbergte. Die Tür fiel zu und unser Blick schweifte nach rechts, wo sich die Geschichten aus 1001er Nacht über die gesamten Wände und Treppen zogen. Malerfreunde von Felix hatten diese Kunstwerke im Haus verewigt. In jeden der Geschichten tauchte Felix Gesicht auf. Ob als Schah, als eine Art Yoga-Man, der nur mit einem Lendentuch bekleidet ist, oder umringt von den schönsten Frauen der Welt umringt. Die Farben machten die Geschichten so lebendig, dass man glauben konnte, man würde direkt hindurchgehen. Gegenüber der Treppe, die hinunter in die Küche und hinauf zu den Schlafgemachen führte, befand sich eine ganze Bibliothek.

Felix hatte sich eine derartige Büchersammlung angeschafft, dass sie locker jede Kleinstadtbibliothek füllen konnte. Auf dem langen Tisch, der sich vor einem der Bücherregale entlangstreckte, lagen Unmengen von Papieren, Magazinen, Bildern, Postern, Postkarten und Büchern herum. Obwohl diese Ansammlung auf uns reichlich ungeordnet wirkte, wusste Felix genau, was er wo finden konnte. Die Ordnung im Chaos. Wer aufräumt, ist zu faul zum Suchen. Alle Bücher, Möbelstücke und Souvenire aus fernen Ländern versteckten sich unter einer leichten Staubschicht. Das Ende des Bibliotheksraumes bildete eine kleine Sitzecke, die im chinesichem Stil eingerichtet war. Das Sofa, der Tisch, die kleinen Elemente, die hier und da mittels Figuren hinzugefügt waren, all dies war original aus China. Wir nahmen sogleich Platz, um die Atmosphäre in uns aufsaugen zu können.

Weiter ging es zu den Schlafgemächern. Wir bekamen ein Zimmer zugewiesen, das ein Außen- und ein Innenfenster besaß. Das Außenfenster war gewöhnlich, doch das Innenfenster war im Stil eines ovalen Bullauges konstruiert. Es hatte metallene Verzierungen ringsherum und wenn wir es öffneten, fiel unser Blick direkt in die 1001 Nacht Geschichten hinein, die die gesamte gegenüberliegende Wand verzierten. Wir waren wohl wirklich in einem dieser Märchen gelandet. Felix Zimmer schien auch einem Sturm erlegen gewesen zu sein, denn um zu seinem Computer zu gelangen, musste man über Berge von auf dem Boden verstreuten Dokumenten steigen. Zwischen Felix und unserem Zimmer lag ein großes Bad. Um dies zu benutzen mussten wir sicher gehen, dass Felix wusste, dass wir uns im Bad befinden, denn es hatte zwei Türen. Eine, die direkt von Felix Arbeitszimmer hineinführte, eine andere, die vor unserem Zimmer lag. Einmal hatte Felix nicht mitbekommen, dass Augustas eine Dusche nimmt und spazierte in das Bad hinein, um sich auf der Toilette zu entledigen. Es schien, als hätte er auch beim Herausgehen noch keine Ahnung davon, dass da jemand vor ihm hinter dem Sichtfenster in der Dusche stand.

Zu guter Letzt blieb uns noch das Untergeschoß zu entdecken. Dort war Felix gerade dabei, einen hausinternen Garten anzulegen. Hinter diesem Garten, befand sich ein kleiner Raum, der vollkommen mit Büchern, Zeitschriften, Schriften, Wissenschaftlichen Arbeiten und sonstigem literarischen Werken bestückt war. Alles fand sich in großer Unordnung, denn Felix hatte keine Zeit, die kostbaren Werke zu sortieren.

Nun aber zur Küche. Schwelgten wir nach der ersten Hausbesichtigung noch in den Geschichten aus 1001er Nacht, wurden wir spätestens jetzt wieder in die Realität zurückgeholt. Die Küche begrüsste uns in einer Form, als wären wir auf einer Müllhalde gelandet. Der Küchentisch berherbergte einen knapp 50 Zentimeter großen Stapel aus altem Papier, leeren, mit Resten versehenen Dosen, verschimmeltem Brot, Eierschalen, Spuren von Tomaten, die gleich auf dem Tisch geschnitten wurden, Tassenringe, dreckigen Gläsern, die teilweise halbvoll mit vergorenem Saft dastanden und dreckige Plastikbehälter, die aus ökologischen Gründen gesammelt wurden. Die Spüle wies ein ähnliches Bild auf. Der Herd stand dem Ganzen in nichts nach, nur dass sich darauf auch etliche Pfannen und Töpfe befanden, die wohl ungewaschen immer wieder verwendet wurden. In vielen dieser Kochutensilien befanden sich Essensreste. Es stank erbärmlich nach verschimmelten Essen in der Küche und wir vermuteten, dass der Geruch aus einem der Töpfe kommen musste. Auf dem Küchenschrank konnten wir keinen Zentimeter Platz erspähen, an dem nicht irgendetwas stand. Der Abfall schien an Ort und Stelle auf den Boden zu fallen, ohne gezielt den sich dort befindlichen Müllbeutel aufzusuchen. Da lagen Eierschalen, Gemüsereste und auch sonst klebte der Boden vor Unreinheit. Felix meinte zu diesen Zustand, “Ich hatte noch keine Zeit, die Küche aufzuräumen, da ich erst vor ein paar Tagen (von einer Reise) zurückgekommen bin.” Wie lange das alles schon vor sich hinschimmelte… Um uns “gemütlich” an den Tisch zu setzen und einen Saft wie auch ein Stück Brot zu “genießen”, schob Felix mit seinem rechten, langgestreckten Arm den Haufen Tischmüll in Richtung Wand. Wir hatten jetzt tatsächlich Platz unsere Gläser abzustellen und auch das Brot, was Felix mitgebracht hatte, auf den Tisch zu legen. Doch abgewischt wurde vorher nicht. Wir hüteten uns also davor, uns gemütlich auf den Tisch zu stützen, denn wir wollten nicht mit unseren Sachen daran kleben bleiben. Appetit, muss ich ehrlich sagen, hatte ich an diesem Tisch keinen mehr. Aber darüber mussten wir auch hinwegsehen. Schließlich waren wir herzlich eingeladen wurden und neben der Küchenmüllhalde und dem Chaos, was im ganzen Haus herrschte, nahmen wir Herrn Felix eben einfach so, wie er ist. Zumindest an diesem ersten Tag noch.

Vor allem an diesem ersten Abend, als wir da beisammen in der Müllhalde des Hauses saßen, teilte Felix mit uns seine persönliche Lebensgeschichte. Als junger Mann hatte er an einem Austauschprogramm in Deutschland teilgenommen. Dieser Auslandsaufenthalt hatte ihm die Augen geöffnet und er hat seit diesem Tag einen großen Teil der Welt besucht und auch in vielen Ländern auf verschiedenen Kontinenten gelebt. Er liebte das Reisen und er verzehrte fremde Sprachen wie andere Schokolade. Felix sprach acht Sprachen fließend und weitere 10 ausreichend, um sich behelfsmäßig zu verständigen. Deutsch war ein
e seiner Lieblingssprachen, so dass er in seinen Erzählungen oft auf Deutsch umstellte. Zum Nachteil für Augustas, der die Sprache nicht beherrscht. Er wusste einige litauische Ausdrücke zum Besten zu geben und wartete mit vielen asiatischen Sprachkenntnissen auf, die er uns meist ins Englische übersetzen musste, da Augustas noch nicht so gut spanisch sprach. Dafür verstand er sich mit Felix auf Russisch, wo ich nun hinten anstand, denn ich hatte meine Kenntnisse der russischen Sprache weit im Hinterkopf vergraben. Wir unterhielten uns letztlich in fünf Sprachen, in die sich von Felix Seite auch immer wieder Chinesisch, Japanisch, Französisch und Norwegisch mischte. Felix erzählte uns von seinen Lebensanschauungen, seiner kurz vor dem Ende stehenden Doktorarbeit und über das Vorhaben, sein Haus in ein kulturelles Zentrum zu verwandeln. Wir wurden von allen Ausführungen gedanklich mitgerissen und konnten uns gut vorstellen, wie Felix Haus ein kultureller Anlaufpunkt in Xochimilco wird. Nur würde er dafür wohl eine Putzfrau anstellen müssen.

Felix teilte uns kurz nach unserer Ankunft Aufgaben zu, die wir gerne machen “könnten” bzw. sollten. Er wusste, dass ich gerne male und so drückte er mir Pinsel und ein Foto in die Hand und erklärte, an welcher Wand er das Motiv gerne verewigt finden würde. Augustas wurde dazu eingeladen, für ihn den Computer besser funktionstüchtig zu machen und über das Programmieren einer Website nachzudenken. Die Bibliothek fiel auf meine Kappe, da ich eine Bemerkung machte, dass hier eventuell Ordnung geschaffen werden müsse. Ich durfte gleich damit anfangen, meinte er. Ich habe wirklich Talent für solche Fälle, aber mir stand nicht der Sinn danach, als Gast bei Jemanden zum Ordnung schaffen “angestellt” zu werden. Da sträuben sich mir die Nackenhaare und ich schalte auf “jetzt erst Recht nicht”. Zu dem Gemälde an der Wand ist es nie gekommen und auch die Bibliothek hat keine großen Veränderungen durch meine Hände erfahren.

Dafür haben wir uns aber, entgegen unserer “Aufträge” für die Instandsetzung des nötigsten Zimmers angenommen: der Küche. Als Felix also am nächsten Morgen verschwand, standen wir kurze Zeit später in der Müllhalde und versuchten daraus eine Küche zu machen. Dies geschah mehr aus Eigeninteresse, denn es war so widerlich in der Küche, dass uns bei dem Gedanken dort zu essen oder Speisen auf dem Herd zuzubereiten der Ekel den Rücken hinaufkroch und in unserer Kehle stecken blieb. Zur Beseitigung der stinkenden Unordnung mussten wir allerdings beachten, dass wir ja keine wieder- bzw. weiterverwendbaren Gegenstände in einem Müllsack verschwinden ließen. Das hätte uns Felix mit seinem Umweltsinn übel genommen. Das hieß im Klartext ausgedrückt, dass wir jedes mit Essen verrotete Becherchen, Plastikschälchen, Döschen, Silberpapier und weiss der Geier was abwaschen und sortieren mussten. Am Morgen hatte uns Felix noch seinen Garten gezeigt, der sich in einem winzigen Hinterhof befand. Dort hatte er einen großen Zitronenbaum stehen und pflegte vereinzelt ein paar weitere Pflanzen. Seinen organischen Abfall lieferte er immer direkt an den Baumstamm des Zitronenbaumes, damit er kräftig weiter austrieb. Die Zitronen, die viel zu viel für eine Person waren, stapelten sich draußen wie drinnen in jeder Ecke und, da sie einfach nicht genutzt werden konnten, verrotetten zumeist. Im Garten befand sich ein großes Steinwaschbecken und auch dieses war vollgestellt mit dreckigem Geschirr und zermatschten wie auch verschmimmelten Esswaren. Drinnen in der Küche, nachdem wir uns die Inhalte der Töpfe näher angeschaut hatten, erfuhren wir den Grund für das enorme Stinken: eine vergoren-verschimmelte Suppe, von der noch mindestens zwei Liter im Topf standen. Wir entsorgten sie sofort. Mehr als vier Stunden benötigten wir für die mehr oder weniger “Instandsetzung” der Küche. Wir waren völlig kaputt, doch das Ergebnis ließ uns zumindest an einem sauberen, leeren Tisch sitzen und unser Essen auf einem sauberen Herd in gereinigten Kochutensilien zubereiten. Und der Gestank war nach vier Stunden Lüften auch endlich verflogen. Wir konnten stolz auf uns sein.

Felix bemerkte die Arbeit und bedankte sich dafür. Statt allerdings eine gewisse Ordnung und Sauberkeit zu pflegen, fanden sich nach jedem Besuch Felixs in der Küche Kleberänder und Kuchen- oder Brotkrümel auf dem Tisch, das Geschirr war statt es richtig abzuwaschen nur behelfsmäßig kurz unter kaltes Wasser gehalten wurden und umgekehrt zum Trocknen aufgestellt. Eine Weiterbenutzung erforderte jedes Mal ein erneutes Abwaschen von unserer Seite. Felix ließ die Töpfe halbvoll stehen und auch die gewohnten Eierschalen in der Nähe der Spüle und des Herdes durften nicht fehlen. Wir stellten in unseren Bart murmelnd die Ordnung wieder her und mit den Tagen verbesserten sich Felix unsaubere Angewohnheiten sogar ein kleines bischen.

Ein heikles Thema für uns waren auch die Toiletten. Felix litt an Durchfall, dem er noch dazu mit ein paar Tabletten half richtig auszubrechen. Nun gut, jeder kann einmal an Durchfall leiden, wenn aber beide Toiletten, die irgendwie nutzbar sind, von oben bis unten mit Scheiße vollgesprengelt sind, hört das Verständnis auf. Zumindest hätte er einmal mit Toilettenpapier die Spritzer abwischen können, doch so weit kam es nie. Es war also jedes Mal eine Ekelerregung, wenn sich der Drang nach der Toilette spürbar machte. Ich setzte mich nur noch wenn unbedingt notwendig auf den Sitz, denn ich wollte nicht auch noch mit einem gesprenkeltem Hintern vom Toilettensitz wieder aufstehen. Für wirklich dringende Fälle nutzte ich Wasser, Seife und Toilettenpapier, um Felix Spuren zu beseitigen und mich guten Gewissens niederzulassen. Noch schrecklicher als die Spuren waren die Geräusche, die Felix von sich gab, wenn er seinem Durchfall im Bad freien Lauf ließ. Es war über jegliche Ekelgrenzen hinaus widerlich.

Sobald wir uns in Felix Obhut befanden, mussten wir uns um die Organisation unserer Freizeit keine Gedanken mehr machen. Felix übernahm das aufopfernd für uns, obwohl wir nicht einmal danach gefragt hatten. Er führte Gespräche mit anderen Servas Mitgliedern, versuchte Treffen mit interessanten Persönlichkeiten zu arrangieren, schlug uns Kunstgalerien zur Besichtigung vor und erwähnte Orte, die es wert wären, sie zu besichtigen. Durch all seine Aktionen schaffte er es auch, uns für den “Dia de los Muertos” (Tag der Toten) unter die Fittiche eines jungen Servas Mitgliedes namens Rodolfo in Mixquic zu geben.

Einen Tag vor dem “Dia de los Muertos” verabredeten wir uns mit Rodolfo in der Nähe von Felix Haus. Rodolfo wollte uns abholen und dann direkt mit uns zu einem Fest in Mixquic fahren. Nach zwei Stunden Warten an einer vielbefahrenden Straße, kam Rodolfo endlich angebraust. Durch die Festaktivitäten und wie üblich um die frühe Abendzeit waren die Straßen in Mexiko Stadt komplett verstopft gewesen. Ein Stau reihte sich an den nächsten und Rodolfo hatte die ganze Zeit den Druck im Nacken, rechtzeitig zu unserem Treffen zu kommen. Das war kein leichtes Unterfangen. Unsere Geduld siegte mal wieder und so fanden wir uns bald in Gesellschaft eines jungen, fröhlichen, intelligenten Mannes wieder, der genau auf unserer Wellenlänge lag. Wir verstanden uns auf Anhieb und die noch vor uns liegenden Staus auf dem Weg nach Mixquic störten uns nun überhaupt nicht mehr. Rodolfo war müde von diesem langen Tag, doch er erzählte uns trotz alledem begeistert von der ganzen Geschichte und all den Traditionen rund um den Todestag, wie auch über seine Kultur. Er stammte mütterlicherseits von einem indianischen Stamm ab und hatte sich eingehend mit seiner Kultur auseinandergesetzt. Ohne mich an seine Kultur zu erinnern, haben mich die Details um deren Traditionen sehr berührt. Schon als Kind träumte ich von einem Indianerdasein und mit Rodolfos Erzählungen konnte ich in die Welt dieser Kultur unbeschwert eintauchen. Auf dem Weg nach Mixquic wurden wir von Kindern in Kostümen angehalten, die mittels einem Seil den Fahrweg abspe
rrten. Sie kamen an die Autofenster gelaufen und verlangten Süßigkeiten, um ihre Beutel zu füllen. Dieses Spektakel praktizierten viele Kinder am Abend vor dem Todestag. Leider hatten wir keine Süßigkeiten dabei, wurden aber gnädigerweise trotzdem durchgelassen.

Endlich waren wir in Mixquic angekommen. Rodolfo parkte das Auto in der Garage, wo uns sein Hund unfreundlich knurrend begrüßte. Ins Haus eingetreten fanden wir Rodolfos Vater vor, der es sich in einem Sessel vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte. Sein Vater war so müde, dass er nach einer kurzen Begrüssung im Sessel wieder einschlief. Während Rodolfo eine Dusche nahm, lümmelten wir uns auf das Sofa und genossen die Beriesselung mit Fernsehanekdoten. Später kam Rodolfos Bruder nach Hause und wir aßen allesamt eine merkwürdige Suppe. Geschmeckt hat sich uns nicht, aber aus Höflichkeit versuchten wir zumindest, die Suppe zu vertilgen.

Eigentlich waren wir mittlerweile alle hundemüde, aber da wir ja nach Mixquic gekommen waren, um an dem Fest zum Todestag teilzunehmen, gaben wir dem Schlafdrang diesmal nicht nach. Auch Rodolfo rappelte sich wieder auf und los gings. Entgegen Rodolfos Gewohnheiten für die Teilnahme an den Feiern des Todestages, nahmen wir diesmal das Auto. Das bedeutete erneut Staus, aber nach einer geschlagenen Stunde, obwohl es wirklich nicht sehr weit war, erreichten wir endlich den Ort des Geschehens. Mit dem Parken von Autos verdienen die Einwohner von Mixquic an jedem Todestag etliche Pesos, denn jeder will sein Gefährt sicher aufgehoben wissen und parkt es in privaten Hinterhöfen ab. Jedes Jahr am Tag vor dem “Dia de los Muertos” finden in Mixquic ausschweifende Feierlichkeiten statt. An diesem Abend werden die skurillsten Süßigkeiten feilgeboten, die oft einen Totenkopf darstellen. Meistens bestehen diese süssen Dinger aus gepoppten Mais und Amaranth. Dazu gibt es ein besonderes Brot, was speziell für den Todestag verkauft wird. Bei unserer Ankunft deckten wir uns also erst einmal damit ein. Augustas probierte einen traditionellen mexikanischen Maisdrunk, der mir wegen der Milch aber vorenthalten blieb. Wir zogen weiter und bestaunten die wundervollen, handgefertigten Kleider, den außergewöhnlichen Schmuck und die Menschen, die ausgelassen durch die Stände schlenderten. Es wimmelte nur so von Besuchern. Am Ende der Verkaufsstrasse kamen wir zu einem weitläufigen Platz. Dort tobte das Leben. Es schien mir fast, als ob wir auf einem öffentlichen Faschingsfest gelandet waren. Überall stoben neue, verrückte Kostüme aus den Ecken, die sich mittels der darin befindlichen Menschen geisterhaft durch die Gegend bewegten. Der Mittelpunkt des Festes bot der Tanz indianischer Vorfahren. So zumindest schien es. Trotz der Eiseskälte, die an diesem Abend herrschte, tanzten um die fünfzig Personen in knappen, prachtvoll indianischen Kostümen über den Platz. Der mit Federn bestückte Kopfschmuck, der die Häupter der Männer schmückte, musste einige Kilo wiegen. An den Beinen hatten die Tänzer Rasseln hängen, die bei jedem Schritt, Aufstampfen oder Drehen einen besonderen Klang verlauten ließen. Die Tänzer waren fast alle barfuß und viele Männer hatten ihre Oberkörper entblößt. Typisch indianisch halt. Die Menge, die diesem Schauspiel zusah, konnte nicht umhin, als mit den Füßen dem Tanzrythmus zu folgen. Kaum lugten wir ins Geschehen hinein, zappelten auch wir in den hintersten Reihen mit. Es war unmöglich bei so viel Energie still zu stehen. Als wir entgegen der Tänzer nicht mehr stehen konnten, liefen wir eine Treppe empor, von der aus wir die Tänze aus einer anderen Perspektive geniessen konnten. Diesmal allerdings im Sitzen, aber noch immer mit wackelnden Beinen. Wir verbrachten einige Stunden an diesem Festplatz, in dem wir meistens nur die Veranstaltungen und die Besucher beobachteten. Mittlerweile zog sich die Müdigkeit bereits durch alle Glieder, so dass wir nur noch einen Blick auf den Friedhof werfen wollten. Der war, neben all den anderen Aktivitäten, die Hauptattraktion des Todestages. Der große Friedhof in Mixquic, wo sich die ganzen Festlichkeiten vor seinen Toren vollzogen, war für die besondere Herrichtung seiner Gräber bekannt, doch leider kamen wir nicht in den Genuss, diese Kunstwerke zu betrachten. Der Friedhof war verschlossen und bewacht und würde vor dem Morgengrauen seine Tore nicht öffnen. Denn erst am Todestag selbst würden die Gräber ihren Schmuck erhalten und dürften von allen Interessenten gesehen werden. Wir begnügten uns also mit der Einladung Rodolfos, am kommenden Vormittag mit ihm und seiner Familie auf einen kleineren Friedhof in Mixquic zu gehen, um dort die Festlichkeiten des Todestages zu erleben.

Wieder hieß es eine Stunde Autofahrt zurück nach Hause. Wir schliefen in Rodolfos Zimmer, wo wir uns das Bett im wahrsten Sinne des Wortes teilten. Das Bett bestand aus zwei aufeinandergestapelten Matrazen, die wir einfach auseinandernahmen. Ohne grosse Gute-Nacht-Gesage-Zeremonie fielen wir in einen tiefen, erschöpften Schlaf. Am Morgen ging es nach dem Aufstehen direkt zu Rodolfos Verwandten, die bereits Frühstück zubereitet hatten. Es gab Tamales verschiedenster Sorten. Ein Tamal ist eine Masse aus Maismehl, in dessen Mitte sich Fleisch, Käse oder Bohnen befinden. Diese Masse wird in ein Bananenblatt eingewickelt und in heißem Wasser gekocht. Heraus kommt eine Gaumenfreude, die süchtig macht. Ich war hocherfreut, dass auch ich diesmal zulangen konnte, denn es waren ausreichend Tamales mit Bohnenfüllung vorhanden. Auch die Familie freute sich verzückt, dass es mir bzw. uns so gut schmeckte. Augustas nahm Tamales mit Käse, die allerdings auch mit Chillischoten gefüllt waren. Nach kurzer Zeit brannte ihm dadurch der ganze Mund und sein Kopf bekam ganz rot.

Das Haus von Rodolfos Verwandten war spärlich eingerichtet, verfügte aber über einen bestimmt sechs Meter langen Tisch. Man weiss ja nie wieviele Gäste kommen… Während die Tanten sich um das Wohl unserer Mägen kümmerten, hatten wir Zeit, uns mit dem Rest der Familie zu vergnügen. Wir konnten auch den hauseigenen Altar bestaunen, der mit seinen vielen Kerzen, Blumengestecken und essbaren Opfergaben eine wundervolle Wärme im Zimmer ausstrahlte. Nachdem wir nichts mehr in unsere Bäuche bekamen, machten wir uns zum Friedhof auf. Wir wussten beide wie der Todestag in unseren Ländern begangen wird, doch meistens verlief dieser Tag in stiller Trauer um die Verstorbenen. In Mexiko passierte das ganze Gegenteil. Weder von Stille, noch von Trauer war eine Spur zu sehen. Die Menschen strömten mit ihren ganzen Familien lauthals lachend und mit strahlenden Augen zu den Gräbern ihrer Vorahnen. Sie hatten Gartenwerkzeuge, etliche Blumen und Gestecke sowie Speisen bei. Sie rupften das Unkraut, kehrten die Steinplatten, steckten frische, bunte Blumen in die Vasen und setzten sich auf die Gräber. Dort breiteten sie ihr Essen aus, dass sie imaginär mit den Seelen der Vergangenen teilten und denen sie mit verschiedenen Getränken zutosteten. Einige Leute gingen gar so weit, dass sie eine Musikgruppe ans Grab bestellten und traurig-schöne Lieder spielen ließen. Durch den ganzen Friedhof streiften die Kinder, die sich für diesen Tag besonders gern in Draculas und sonstige dunkle Gestalten verwandelten. Einen herzhafteren, fröhlicheren Todestag haben wir nie zuvor erlebt und wir befanden, dass es an der Zeit war, diese Tradition auch in unsere Länder zu tragen. Denn schließlich war der Todestag der Moment in einem Jahr, wo die Seelen der Toten zum Ort ihrer Körper zurückkehrten und die glücklichen Zeiten wie in der Vergangenheit mit ihren noch auf der Erde befindlichen Familien teilten. Als Abschluß dieser ganzen Feierlichkeiten gab uns Rodolfo auch noch eine CD mit den berührenden Liedern, die wir an den Gräbern gehört hatten.

Es war Zeit sich auch in Xochimilco ein bischen mehr umzuschauen und so machten wir uns zu einer Gondelfahrt auf. Wir kamen am frühen Morgen, doch zu dieser Zeit gab es nur die teure Variante des Mietens einer eigenen Gondel, was nahezu 200 Peso
s (16 Euro) kostete. Wir mussten uns also bis zwei Uhr nachmittags gedulden, denn dann würde eine Art Sammel-Gondel für bis zu zwanzig Teilnehmer starten. Die Gondel fuhr letztlich gegen halb Drei ab und hatte gar noch einige Plätze frei. Die Fahrt kostete knappe 30 Pesos (2,30 Euro).

Noch während wir auf die Abfahrt warteten, konnten wir von unserer Gondel aus das Treiben auf dem Wasser beobachten. Dabei entdeckten wir die verschiedensten Gondel- und Bootsführer. Die erste Sorte steckte in todschicken, mexikanischen Kostümen und unterhielt die Gäste meist auch verbal oder musikalisch. Unter die zweite Sorte fielen Musikanten, die ihre eigene Gondel besaßen, sich an die Vergnügungslustigen auf anderen Gondeln herantasteten und gegen Honorar bezaubernde Musik verlauten ließen. Während dieser Mini-Wasser-Konzerte hatte der Gondelführer meist nichts zu tun und las auch einfach mal in der Tageszeitung. Von der dritten Sorte waren die Verkäufer, die mit dampfenden Kochtöpfen angefahren kamen und gebratene Maiskolben und andere Mahlzeiten anboten. Die Nummer Vier erhielten die Bootsleute, die für ihr Restaurant oder ihr eigenes Haus notwendige Waren, vor allem Lebensmittel und Getränke, beförderten. Und schließlich kommen wir zur fünften Sorte, die auf eine einzelne Dame entfiel. Sie war in einem etwas gruseligem Kostüm verkleidet und bat die Bootsleute um eine Mitfahrgelegenheit, um zu ihren theatralischen Auftritten auf den Vergnügungsgondeln zu gelangen. Obwohl der Fluß völlig mit Gondeln verstopft war und wir gar in Staus hineingerieten, beruhigte und vergnügte uns das Wippen unseres Gefährts. Einmal stiegen wir aus, um einen botanischen Garten zu besuchen. Dort hätten wir auch Pflanzen kaufen können.

Während wir in dem Garten und dessen näherer Umgebung herumstreiften, entdeckten wir eine eigenartige, ungefähr kopfgroße Frucht, die sich in Armlänge erreichbar vor uns präsentierte. Sollten wir sie pflücken? Schließlich schien sie ja niemanden zu gehören. Doch wir befanden, dass die Frucht oder auch das Gemüse, was auch immer es war, wohl einfach dorthin gehörte. Wir rührten sie also nicht an. Eine Mutter, die mit ihren Kindern hinter uns herspazierte, hegte den gleichen Gedanken wie wir bei Entdecken der Frucht. Sie sprach sich mit ihren Kindern ab, deren Augen bei der Stiebbitzidee sofort aufleuchteten. Die Kinder schafften es, die Frucht von ihrem Busch abzutrennen und übergaben sie ihrer Mutter. Da die Mutter die Frucht aber nicht richtig zu greifen bekam, fiel sie ihr aus der Hand und rollte in Blitzeseile bis in den Fluß hinein. Wir hatten es doch geahnt. Die Frucht gehörte an keinen anderen Ort als diesen hier.

Gerade als wir im Stau standen konnten wir das Treiben auf all den andern Gondeln ausgiebig beobachten. Da waren Jugendliche, die wahrscheinlich einen Geburtstag auf der Gondel feierten, feine Herrschaften, die sich ein teures Menü auf die Gondel bestellt hatten und natürlich auch für ihr privates Konzert bezahlten, Arbeitskollegen, die einen Firmenausflug machten, Familien, die ihren freien Tag sinnvoll mit den Kindern verbringen wollten, alte Leutchen, die sich bestimmt schon zum dreihundersten Mal diese Reise antaten usw. Es war alles dabei, auch Traveller, so wie wir. Die sammelten sich aber ausschließlich in der Gemeinschaftsfähre, weil das Budget für die Eigenmiete über die verfügbaren Geldmittel hinausgingen.

Die Gondelfahrt war das Warten und die Staus wirklich wert gewesen. Die faszinierende Wasserwelt mit ihren tausendfarbig-strahlenden Gondeln und Gondelführern, das bunte Bild der Vergnügungslustigen, die Ruhe auf dem Wasser, die uns Tiere und vor allem Vögel erspähen ließ und das leichte Wankeln, mit dem wir in einen tranceartigen Zustand versetzt wurden. Die eine Stunde auf dem Wasser füllte ganze Gefühls- und Wahrnehmungswelten.

Nach der langen Zeit des Wartens und der einstündigen Gondelfahrt war es höchste Zeit eine Toilette aufzusuchen. Gleich an dem Ankunftsort wurden wir fündig. Der Benutzungspreis war unerhört teuer, doch was sollten wir machen. In der Toilette gab es kein Licht, so dass ich mich nur wage orientieren konnte. Der ganze Fußboden war nass, wahrscheinlich, weil die Mexikaner gerne mit viel Wasser reinigen. Die Hose schweifte unglücklicherweise auf dem Fußboden, doch da sie eh bereits nass war, nützte das Hochkrempeln jetzt auch nichts mehr. Das dachte ich zumindest. Als ich fertig war und aus meiner Toilettenzelle herauskam, fiel ein Lichtstrahl auf den Toilettenboden. Da sah ich, dass weit und breit um die Toilette herum eine durchfallartige Masse verteilt war. Mir wurde schlecht und klar, dass meine Hosenenden nicht in Wasser, sondern in Durchfall gebadet hatten. Ich stürmte wütend aus der Toilette heraus, um mir das Ergebnis anzusehen. Meine Ekelgrenzen wurden dabei wirklich ausgetestet. Mit unserem eigenen Toilettenpapier hockte ich mich also in die nächste Straßenecke und versuchte mich, ohne die klebrige Durchfallmasse auch nur im Entferntesten anzufassen, meine Hosenbeine notdürftig zu reinigen. Puh, was für ein Erlebnis nach diesen Höhenflügen auf der Gondel! Ich konnte nicht nachvollziehen, wofür ich eigentlich so viel Geld für die Toilettennutzung bezahlt hatte. Für den Durchfall vielleicht? Na dann, vielen Dank.

Auf unseren Streifzügen durch Xochimilco fanden wir einen wunderschönen “Bauernmarkt”, auf dem wir immer frisches Obst und Gemüse bekamen. Auch stöberten wir den einen oder anderen Naturladen auf, die mich magisch anzogen. Wir entdeckten auf unseren Entdeckungstouren durch Xochimilco unter anderem eine Kunstuniversität. Als wir dort hineinspazierten, boten sich an vielen Außenwänden regenbogenbunte Kunstwerke, aus Steinen und Metall emporgewachsende Statuen, kreative Unordnung und viele Studenten, denen man vom Äußeren her ansehen konnte, dass sie zu den Künstlern gehörten. Ich seufzte. Gerade in einer solchen Umgebung träume ich von dem Tag, an dem ich mich irgendwo niederlasse und Kunst und Design studieren werde.

Während der Tage in Xochimilco entschied ich mich, einen erneuten Stuhltest zu machen. Ich hatte nach dem Parasitenbefall in Guatemala meine alte Stuhlkonsistenz nicht wiederherstellen können. Der Test ergab, dass nur ein (gutartiger) Parasit gefunden wurde. Der Arzt machte mir weiss, dass ich jetzt für einige Tage eine Hammerportion Chemie in mich hineinkippen müsste, damit ich auch diesen Parasit los werde. Kaum waren wir im Internet angekommen, informierte ich mich über den Parasiten, denn anders kam ich ja an keine vernünftigen Informationen heran. Es stellte sich heraus, dass dieser Parasit, den man bei mir gefunden hatte, völlig harmlos war und selbst mit den stärksten Chemiekeulen nicht auszurotten ist. Er gehört halt einfach irgendwann zum Verdauungssystem dazu. Stell sich mal einer vor, ich hätte mich nicht selbst kundig gemacht und diese Tortur mit einen der stärksten aller Antibiotika wirklich über mich ergehen lassen. Schreckliche Gedanken. Ich traute den Ärzten sowieso nicht mehr und dieses Erlebnis war nur eine weitere Bestätigung, dass die überhaupt keine Ahnung von der Sache haben. Nichts gegen Ärzte, aber in vielen Fällen stopfen sie einem einfach mit irgendetwas voll, weil: “Medizin wird schon ihre Wunder tun.” Und wenn man dann am Ende daran krepiert, liegt das mit Sicherheit nicht am Arzt. Vielen Dank, ich habe genug von der Schulmedizin.

Ich wusste es würde irgendwann passieren. Augustas und ich tobten durch unser Zimmer in Felix Haus, neckten uns gegenseitig wie kleine Kinder, sprangen umher und ich machte ausgerechnet eine ruckhafte Rückendrehung. Klack. Das wars. Die “Reparatur”, die der guatemalische Chiropraktiker an meinem Rücken manuell vorgenommen hatte, war futsch. Ganze sechs Wochen hatte das Wunder gehalten, in denen ich mich einzigartig gut gefüllt hatte, keine Schmerzen verspürte und mich frei, fröhlich und munter bewegen konnte. Nun war es mal wieder vorbei. Die ganze Rückenproblematik ging von vorne los. Prost Mahlzeit.

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